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Kultur: Alles und noch viel mehr

Zehn Jahre nach seinem Tod wird Rio Reiser heftiger denn je verehrt – durch CDs, eine Biografie und einen Film

Es waren immer die Ränder, an denen Rio Reiser ein Zuhause fand. Kreuzberg war ein vergessener Zipfel Westberlins mit schäbigen Mietskasernen und Fabriken. Dahinter begann der Osten. Hier formierte sich Ende der sechziger Jahre die Band Ton Steine Scherben, in der Reiser sang. Fünf Jahre später verließen die gestressten Musiker die zu eng gewordene Mauerstadt und kauften sich einen Bauernhof im nordfriesischen Dorf Fresenhagen, kurz vor der dänischen Grenze. Unter dem reetgedeckten Dach erfand sich die Band, ausgelaugt von ewigen Diskussionen mit ihren Anhängern, noch einmal neu. In Fresenhagen startete Rio Reiser seine Solokarriere. Und dort starb der Sänger – heute genau vor zehn Jahren – an einem Kreislaufkollaps. Er liegt auf dem Grundstück begraben.

Rio Reiser wird als Toter inzwischen so heftig verehrt wie zu Lebzeiten nie. Pilger übernachten im „Rio-Reiser-Haus“, Bands wie Die Sterne nehmen in dem Schuppen des Bauernhauses Alben auf. Der Trash-Entertainer Daniel Küblböck tanzt im Video zu seiner „König-von-Deutschland“-Version auf Reisers Grab. Völlig aus den politischen Zusammenhängen hat die rechtsradikale Band Landser den Scherben-Protestklopper „Allein machen sie dich ein“ gelöst, wenige Veränderungen genügten, um daraus ein antisemitisches Hetzlied zu machen. Jan Delay covert auf seinem aktuellen Nummer-Eins-Album den Liebessong „Für immer und dich“ und folgt damit der süßen Bubiband „Echt“, die vor Jahren erfolgreich den Hit „Junimond“ interpretierte. Über Rio Reisers Bedeutung für den deutschen Pop kann kein Zweifel bestehen – doch das musikalische Nachleben des Königs präsentiert sich merkwürdig ausgefranst.

Vielleicht liegt es daran, dass er trotz seines Erfolgs nie im Zentrum angekommen ist. Schon bald wollte Reiser nicht mehr der Sprecher einer linksalternativen Opposition sein. Er fühlte sich als Homosexueller unverstanden von einer Szene, die Schwulsein in Arbeitsgemeinschaften verwaltete, fand aber andererseits nie so recht in die Schwulenszene. Auch musikalisch blieb er abseits: Als Punk und die Neue Deutsche Welle Anfang der achtziger Jahre Erfolge feierten, waren Ton Steine Scherben, die diese Bewegungen vorweggenommen hatten, schon wieder ganz woanders. Und als alle in Reiser den aggressiven Rockmusiker sahen, sang er Marlene-Dietrich-Chansons.

Eine Rand- und Ausnahmeposition, die ihn zu einem tragischen Helden macht. Erste Musicals über sein Leben liefen bereits auf Theaterbühnen. Vielleicht hätte das dem Sänger gefallen. Er selbst versuchte sich früh an der Komposition einer Beatoper. Auch die Kulisse seiner Anfänge wirkt heute bühnenreif pittoresk: Auf einem Hinterhof in der Oranienstraße probte Ende der sechziger Jahre das Hoffmanns Comic Theater. Die kleine Gruppe, von der sich später das Lehrlingstheater Rote Steine abgespaltete, improvisierte proletarische Singspiele in Jugendhäusern.

Der 18 Jahre alte Ralph Christian Möbius, der sich später Rio Reiser nannte, war gemeinsam mit R.P.S. Lanrue für die Musik zuständig. Schon in Frankfurt, wo die beiden vorher wohnten, spielten sie in einer Rockband. Nun waren sie die musikalischen Verstärker der Agitpropbotschaften – die Geburt der Musik aus dem Geist der Tragödie. Bei den Stücken der Maurer- und Kraftfahrerlehrlinge ging es um Stress in Familie und Ausbildung, um Phantasien, wie man den Chef endlich mal zusammenhaut. Und der schnäuzbärtige, langhaarige Rio Reiser skandierte zur E-Gitarre: „Macht kaputt, was euch kaputt macht!“

1970 wurden die Roten Steine auf ein mies organisiertes Popfestival auf der Insel Fehmarn eingeladen. Nach dem dritten Song zündeten Besucher das Büro der Veranstalter an. Das Festival versank in Chaos, und die Band, die fortan Ton Steine Scherben hieß, war plötzlich berühmt. Bald gründen die Agitrocker das erste deutsche Indie-Label David Volksmund Produktion, sie veröffentlichten eine Bandzeitung, klebten Plattenhüllen und ließen Singles pressen. „Keine Macht für Niemand“, „Wir streiken“ oder „Der Kampf geht weiter“ hießen die ersten Bluesrocksongs. Revolutionäre Volkslieder sollten es sein, die „alle Menschen überzeugen, sich von ihrer Unterdrückung zu befreien“, wie Reiser sagte. Die Arbeitslosenquote lag in der Bundesrepublik bei einem Prozent, Arbeiter besaßen ein starkes Selbstbewusstsein. Die Scherben riefen zur Besetzung leerstehender Häuser auf und warben für das Schwarzfahren.

In Fresenhagen änderte sich das Engagement. Man schrieb Musik für schwule Theatergruppen und hielt sich ansonsten mit Parolen zurück. Aus dem Gesamtwerk der Band, das David Volksmund dieser Tage veröffentlicht, sticht das 1980 in Friesland aufgenommene Album „IV (Die Schwarze)“ hervor. In dieser aufwendig neu gemischt und gemasterten und liebevoll gestalteten Edition, die neun CDs mit 140 Songs umfasst, hört man endlich, wie die Scherben-Platten hätten klingen sollen und was ungenügende technische Bedingungen verhinderten. „Die Schwarze“ etwa konnte man wegen einer schlechten Vinylpressung nicht gebührend würdigen. Die Scherben benutzen Akkordeons, Flöten und Waschbretter, ein Kinderchor schmettert, es klingt nach Folk und Volksmusik, dann wieder psychedelisch abgedreht. Die verschlüsselten Texte wurden mit Hilfe von Tarot-Karten geschrieben.

Mitte der achtziger Jahre waren die Scherben hoch verschuldet und trennten sich. Rio Reiser wurde nun von Annette Humpe produziert und landete mit „König von Deutschland“ und „Junimond“ ganz oben in den Charts. Er schrieb Texte für Marianne Rosenberg und Klaus Lage und arbeitete als Produzent. Nach dem Ende der DDR trat er in die PDS ein, bald darauf verließ er, Vereinnahmungen waren nicht sein Fall, die Partei wieder. Reiser rieb sich an der Politik, an der Arbeit und an Liebesgeschichten auf. Der Berliner Journalist Hollow Skai beschreibt in seiner kürzlich veröffentlichten Biografie „Das alles und noch viel mehr“ (Heyne, 256 S., 18,95 €) einen gebrochenen Helden, der im Alkohol untergeht. Eine Sicht, der ehemalige Gefährten, die Brüder und Fans heftig widersprechen.

In dem Film „Für immer und Dich“ liest Skai auf einem Kreuzberger Dach sitzend aus seinem Buch. Abwechselnd tragen auch Scherben-Bassist Kai Sichtermann und andere Mitstreiter ihre Erinnerungen an den Sänger vor. Die Geschichte Rio Reisers setzt sich aus vielen Splittern zusammen. Sie erzählt auch die Geschichte der westdeutschen Linken. Ein Bildungsroman – Rio hatte sich nach Karl Philip Moritz’ Romanfigur Anton Reiser benannt –, der von Aufbruch und Gewalt, von sich wandelnden Ideen, von Irrwegen und Streit, vom Erfolg, von der Liebe und von tiefen Enttäuschungen handelt.

„Für immer und Dich“ läuft in den Hackeschen Höfen (18 Uhr) und im Eiszeit (21 Uhr). Das Gesamtwerk der Ton Steine Scherben und die Live-CD „Live III“ erscheinen am 25. August. Einen Tag später präsentiert das Kino Babylon Mitte ab 11 Uhr Filme und Hörstücke mit, über und von Rio Reiser. Leander Haußmann, Laura Tonke, Alexander Scheer u.a. lesen unveröffentlichte Texte des Sängers.

Daniel Völzke

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