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Kultur: Alpensilhouette im Trockendock

Erinnerung an Kunst ist stets räumlich. Sie hängt davon ab, in welcher Umgebung sich das Werk befand, wie es mit den benachbarten Arbeiten zusammenwirkte.

Erinnerung an Kunst ist stets räumlich. Sie hängt davon ab, in welcher Umgebung sich das Werk befand, wie es mit den benachbarten Arbeiten zusammenwirkte. So wird man bei der 48. Biennale di Venezia zuerst an die Räume, erst dann an einzelne Werke zurückdenken. Denn das Öffnen des Arsenale, des einstigen militärischen Sperrgebiets, ist die Sensation dieses Kunstsommers.

Es geht nicht nur um 4000 Quadratmetern mehr Ausstellungsfläche. Es geht um das Erschließen einer anderen Welt, einer Stadt in der Stadt, die seit dem 16. Jahrhundert nur Angehörigen des Militärs zugänglich war. Lange war die Öffnung geplant, doch erst dem neuen Leiter der Biennale, dem Schweizer Ausstellungsmacher Harald Szeemann, gelang es - befördert durch Venedigs eigenen Wunsch -, der ältesten Kunstbiennale der Welt kurz vor dem Jahrhundertwechsel diese Attraktionssteigerung zu verschaffen. Kunst und räumlicher Kontext gehen hier nun eine Symbiose ein, die an Intensität kaum zu überbieten ist. Man wird an die Teppichflöße von Lois Herberger nicht mehr ohne die gewaltige überdachte Anlegestelle denken können, an der sie schwammen. Wo immer Stephan Hubers in Gips nachgeformte Alpensilhouette "Gran Paradiso" künftig steht, die Erinnerung an die im Arsenale drumherum drapierten Abfälle aus der historischen Werft wird dazugehören. Auch das Lichtspiel von Serge Spitzers aus Marmeladengläsern hergestellter Glasmenagerie wird seinen betörenden Zauber so nicht wieder ohne den Halbdämmer des Boots-Lagerhauses entfalten können.

Und noch etwas ist Harald Szeemann gelungen: Die sonst eher als Pflichtveranstaltung wahrgenommene Hauptausstellung der Biennale, die mehr krampfig als kregel wirkende Zusatzschau "Aperto" für den Nachwuchs, hat einer Präsentation Platz gemacht, die einen eigenen Besuch Venedigs lohnt. Mit diesem Coup stiehlt der Biennale-Leiter beinahe den Pavillons die Schau, wäre man nicht doch neugieriger darauf, wie sich diesmal die einzelnen Nationen präsentieren (s. Tsp. vom 12. Juni). Gewiß, in mancherlei Hinsicht hat es sich Szeemann leicht gemacht: jung und alt einfach zusammengewürfelt, gewitzt die bunte Mischung - in Anlehnung an die übrigens von ihm 1980 eingeführte "Aperto" - "dAPERTutto" genannt, was so viel wie "nach allen Seiten offen" heißt, und auch sonst sich keiner Themenvorgabe gestellt. Die Entscheidung für die knapp über hundert eingeladenen Künstler traf er wie immer intuitiv. Das Ergebnis ist eine typische Szeemann-Ausstellung, die von Leidenschaft für die Kunst zeugt, Neugier auf das Neue erkennen läßt und zugleich alte Weggefährten in ehrendem Andenken hält.

Mit nicht versiegendem furor articus gelang es dem 65jährigen auch, den italienischen Pavillon komplett für seine Hauptausstellung freizuräumen und Altmeister wie Mario Merz mit seinen unvermeidlichen Glas-Iglus endlich vor die Tür zu setzen. Wo man sich früher zunehmend mißmutig seinen Weg durch das Labyrinth dieses größten aller Pavillons bahnte und nicht recht wußte, ob man nun über Italiens Biennale-Beitrag oder bereits Werke der Sonderschau stolperte, geht nun ein einziger Atem durch die Räume, der das Ganze als Ensemble in Spannung hält. James Lee Byars "Orakel von Delphi", eine mit Golpier bedeckte Urne unter der Eingangskuppel, das muß Szeemann eine glückliche Stimme zugeraunt haben, denn die noch immer unübersichtliche Raumfolge hat unter seiner Regie Stringenz bekommen. Hier in den Giardini ehrt der Kurator die Alten, gedenkt er der Verstorbenen, so auch Martin Kippenbergers mit einem eigenen Saal. Szeemann richtet ihm eine kleine Hommage ein, die wie ein endlich angekommener, ironischer Gruß des Künstlers an die Lagunenstadt wirkt - Kippenberger hatte sich Zeit seines Lebens eine Teilnahme an der Biennale gewünscht. Im Zentrum der Mini-Ausstellung ist sein "Sozialkistentransporter" aus dem Jahre 1989 gestrandet: eine aus buntem Holz zusammengehämmerte Gondel, die Pasta-Kisten birgt.

Die Schärfe von Kippenbergers Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen, die Komik seines Kommentars findet sich ansonsten nicht auf "dAPERTutto" wieder. Gerade den jüngeren Künstlern ist eine Ernsthaftigkeit zu eigen, die vielleicht sogar passender zur getragenen Stimmung der Stadt ist. Fotografie und Video sind das Medium, in dem sie sich am liebsten ausdrücken. In "Wild modesty" läßt Pipilotti Rist auf einer gefilmten Autofahrt durch die Vorstadt-Tristesse, wie sie en miniature im italienischen Pavillon nachgebaut ist, ihren Gedanken freien Lauf und räsoniert darüber, daß Ethik und Politik, Metaphysik und Physik wieder zusammengehören müßten. So versponnen und zart kommt auch Sarah Sze mit ihren aus Streichhölzern, Wattestäbchen, Plastikschläuchen gebildeten abstrakten Szenarios daher, die sie in Venedig "Capricious Invention of Prisons" nannte; ebenso Ann-Sofi Sidén, die mit ihrer zur Manifesta in Luxemburg gezeigten Videoarbeit "Who told the Chambermaid?" noch einmal eingeladen war und verbotene Blicke in anonyme Hotelzimmer erlaubt.

Das Gegenstück zu diesen eher stillen, fast intimen "dAPERTutto"-Arbeiten in den Giardini bildet das powerplay im Arsenale, wo weitläufiges Gelände wie ausladende Installationen dem Besucher einiges an Ausdauer abverlangen. Hier haben sich Jason Rhoades und Paul McCarthy mit "Propposition", ihrer Vision der Vereinigten Staaten in Gestalt einer gewaltigen Assemblage aus Möbeln, Laufbändern, Jahrmarktgerät, in einer ganzen Halle ausgebreitet. Thomas Hirschhorn schließt sich an mit seinem hochmoralischen "Flugplatz Welt", der auf Dutzenden von Stellwänden mit Hunderten von Zeitungsausschnitten die Zusammenhänge der internationalen Verkehrsströme mit Terrorismus, Krieg und Hungerkatastrophen aufzeigt. Auf die Mühsal dieser Lektüre und Tragweite solcher Erkenntnis folgt in der nächsten Halle ohrenbetäubender Trommelwirbel. Besucher können sich an der aus Stühlen und Bettgestellen gebildeten Mammuttrommel des chinesischen Künstlers Chen Zhen lautstark austoben.

In der Corderie, der zum Arsenale gehörigen Seilerei, die schon länger für die Biennale zur Verfügung steht, hat Szeemann noch einmal sein ganzes Talent als Inszenator großer Ausstellungen vorgeführt. In der über 300 Meter langen Halle ist ein einmaliger Parcours zustandegekommen, der geschickt große Arbeiten mit intimen Installationen kombiniert, auf skulpturale Ensembles ganze Abteilungen mit Videoarbeiten folgen läßt und dadurch bis zuletzt das Interesse wachhält. Hier kommen nochmals verstärkt die chinesischen Teilnehmer zur Geltung, die ein gutes Fünftel von "dAPERTutto" stellen.

Doch so verdienstvoll Szeemanns Fokussierung auf diese immer noch viel zu wenig bekannte Szene ist, so wenig überzeugt am Ende die aus China importierte Kunst. Die Anleihen bei westlichen Vorbildern werden überdeutlich, im hiesigen Kontext verlieren diese sicher mutigen Zitate an Sprengkraft und Witz. Nur wenige Beiträge überzeugen wie die Fotoarbeiten von Zhang Huan. Huan stieg zum Beispiel mit Freunden in einen Tümpel und ließ damit "das Wasserniveau eines Fischteichs ansteigen" oder legte sich, ebenfalls mit Freunden, entkleidet zu einer menschlichen Pyramide übereinander, um "einen unbekannten Berg um einen Meter (zu) erhöhen". Während die Kraft der Kunst in China Berge zwar nicht versetzen, aber doch wachsen läßt, gelingt es ihr in Venedig, jahrhundertelang versperrte Pforten zu öffnen.

Biennale di Venezia, Castello Giardini und Arsenale, bis 7. November; Katalog (englisch/italienisch) 100 000 Lire.

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