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Kultur: Als die DDR frivol wurde

Neu auf DVD: „Die Erschaffung der Welt“.

In Siegfried Kracauers Standardwerk „Von Caligari zu Hitler“ (1947) wird das Wesen der Deutschen anhand der deutschen Filmproduktion erklärt. Dieser auch heute noch verbreitete Ansatz hat Widerspruch provoziert: Es reiche nicht aus, zu untersuchen, was für Filme ein paar Deutsche gedreht haben – viel wichtiger sei, was Millionen Deutsche im Kino sehen wollten. Und das waren, bereits in der von Kracauer analysierten Weimarer Republik, ausländische Filme, überwiegend aus Hollywood. Es ist nicht einzusehen, warum – gerade unter soziologischem Aspekt – einem schwermütigen expressionistischen Kammerspiel, das niemand sehen wollte, mehr Bedeutung beigemessen wird als einer köstlichen Chaplin-Komödie, wegen der sich lange Schlangen vor dem Marmorhaus gebildet haben.

Für das Verständnis der DDR gilt dasselbe. Man muss untersuchen, was an Filmen gesehen, nicht nur gedreht wurde. Der gewöhnliche DDR-Bürger kannte die Abenteuer der Olsen-Bande in- und auswendig und hat noch nie von den Problemfilmen eines Lothar Warneke gehört. Deshalb ist es wichtig, an ausländische Produktionen zu erinnern, die in der DDR Kultstatus erlangt haben. Sie wirken auf den West-Betrachter besonders exotisch. Der Zeichentrickfilm „Die Entdeckung der Welt“ etwa: Als Vorlage dienten die Comics des Franzosen Jean Effel, aus denen mithilfe des tschechischen Regisseurs Eduard Hofman bewegte Bilder entstanden. 1958 wurde der Film in Venedig uraufgeführt. Der „Osservatore Romano“ verurteilte ihn als blasphemisches Machwerk, weil er die Schöpfungsgeschichte sehr frei behandelte. Schon ein Jahr später lief er mit großem Erfolg in den Kinos der DDR.

Dort ist die Verurteilung des Vatikans besonders betont worden. Die wichtigste Fachzeitschrift, der „Film- Spiegel“, präsentierte Zeichnungen von Adam und Eva im entsprechenden Kostüm, also ohne Kostüm, und den lieben Gott in unwürdigen Stellungen. So ließ sich der Eindruck erwecken, die DDR sei liberaler als das kapitalistische Ausland. Sogar im frivolen Frankreich wurde „Die Entdeckung der Welt“ erst 1963 uraufgeführt. Ein verkanntes subversives Meisterwerk also?

Weit gefehlt. „Die Entdeckung der Welt“ ist neckisch und reizend, nicht verletzend. Kein Skandalfilm, der mit Louis Malles „Die Liebenden“, Luis Buñuels „Viridiana“ oder Ingmar Bergmans „Das Schweigen“ konkurrieren konnte. Den Kultstatus in der DDR verdankte er gerade seiner Harmlosigkeit. Er gab dem Publikum das Gefühl einer Grenzüberschreitung , die gegen das eigene System nicht erlaubt war. Der Vatikan war ein bequemeres Ziel als die SED. Das muss man im Auge behalten, um den mit groben Strichen gezeichneten Film zu würdigen. Von ihm existieren drei Fassungen: die des Defa-Studios für Synchronisation (die jetzt neu auf DVD erschienen ist, Gone Fishing, 11,49 Euro), die tschechische Originalfassung und eine 1995 vom NDR hergestellte Version für das wiedervereinte Deutschland. Ein Film mit regem Nachleben. Aber seine Rezeption in der DDR bleibt unübertroffen. Frank Noack

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