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Kultur: Als hätte es ein Leben nie gegeben

Unterm Düsenjet: Martin Kusej legt in Stuttgart Händels Barockoper „Giulio Cesare“ dem 21. Jahrhundert ans Herz

Wie eine längst verheilt geglaubte, gut verschorfte Wunde bricht diese Oper anfangs auf. Das bedeutet: Zunächst ist die Welt stumm und ganz ohne Musik. Versprengte Menschen suchen einen Fotofix-Automaten auf, hocken sich hinein – und verschwinden darin, lösen sich in Luft auf. Ganz normale Menschen: ein Herr im Zweireiher, eine Dame mit üppigem Pelzkragen, eine andere im Lackledermantel, ein Penner, eine bebrillte Raver-Type. Und alle haben sie Gepäck dabei. Jedes Mal aber, wenn es blitzt, taucht vorne an der Automatenfront das Konterfei jener Figur auf, die die jeweilige Person in der Oper zu spielen gedenkt: Cäsar also oder Cleopatra, Ptolemäus, Achillas oder Nirena. Und kaum ist der Fotofix weg, und haben die acht Menschen mit ihrem Gepäck einmal den schwarzen, unheilvoll sich drehenden Wellblechwürfel umrundet, der die Bühne füllt, da senken sich – rechtzeitig zur Ouvertüre – auch schon acht Kopfhörer aus dem Schnürboden herab. Musik durchzuckt die Menschenglieder, und als könnten sie nicht anders, beginnen die Sänger in ihre Rollen zu schlüpfen und sich zu verwandeln.

Jeder kann hier Cäsar sein

Was Martin Kusej mit dieser (etwas länglich geratenen) Exposition sagen will, ist allerdings so klar nicht. Alle Macht den Tönen? Oder: Jeder kann hier Cäsar sein, und wahre Oper findet zuallererst auf der Straße statt? Der Fotofix als Nadelöhr zwischen Realität und Utopie, zwischen Mensch und Menschenbild? Brisante Fragen, gerade an Händels „Giulio Cesare“, ein Werk von geradezu gespenstischer ästhetischer Ausgewogenheit, dem gleichwohl nichts Menschliches fremd bleibt: kein noch so tiefer Abgrund und kein noch so fratzenhafter Affekt. Allein, Kusej belässt es leider mehr oder weniger bei diesem „Vorspiel“ (welches dreieinhalb Stunden später naturgemäß ein „Nachspiel“ haben wird) und verharrt ansonsten in einer Mischung aus Ehrfurcht und Ratlosigkeit vor der Partitur – eine Beobachtung, die man bereits bei seinem „Don Giovanni“ für die Salzburger Festspiele machen konnte. Hier traut sich einer nicht. Oder er hört nicht hin. Oder es fällt ihm nichts ein. Das alte Regietheater-Lied, es gilt auch hier: Denn setzte man Kusejs Figuren Gummi-Harnische auf und steckte sie in entsprechend „römische“ Rüstungen, Händels dramma per musica beschränkte sich nur zu rasch auf Schwerterwetzen, Beileschwingen und Rampenknien.

So gern der Stuttgart-Sänger (eine respektable Spezies analog zum Marthaler-Menschen) sich aufgeklärt und „heutig“ gibt, so extensiv er die Autismen, Versehrtheiten und Deformationen seiner Figuren auf der Bühne auslebt – er ist und bleibt auch Sänger, Opernsänger, und die Attitüden des Singens fallen nicht selten stärker aus und imposanter als die des „Heutigen“. Dagegen hat Kusej einmal mehr kein rechtes Mittel gefunden. Und insofern ist das, was der ruhmreiche Cäsar und seine mörderischen Widersacher in Olaf Altmanns monumentalem Einheitsbühnenraum so treiben (der Würfel gibt im zweiten Teil den Blick auf eine sich nicht minder unheilvoll drehende Treppe in Pyramidenform frei), alles andere als heutig oder gar: an unsere Versehrtheiten, unsere eigenen Deformationen, Ängste und Sehnsüchte rührend.

Manchmal ist das, was da geschieht, einfach nur neckisch und nett – etwa wenn Cäsar und die verkleidete Cleopatra sich zu Beginn des zweiten Teils in einem kleinen roten Campingzelt miteinander vergnügen (ihre Pause setzt die Aufführung unerklärlicherweise nach dem zweiten Bild des zweiten Aktes an, nach der großen „phantasmagorischen“ Verführungsszene auf dem Parnass also). Oft ist es bestrickend schön und hart an der Grenze zum Bildertheaterkitsch, was Kusej und Olaf Altmann sich haben einfallen lassen – etwa wenn Cleopatra im Parnass-Bild wie Eva mit der Riesenschlange und von Kopf bis Fuß in ägytisches Gold gegossen zualleroberst auf der Pyramide thront und circt und lockt und buhlt und wirbt: um Cäsar, der mit sehr roter, sehr langer Toga unten wartet.

Sehr oft aber ist es auch bloß beliebig, ja bestürzend hilf- und harmlos, wie Händel hier dem 21. Jahrhundert ans Herz gelegt werden soll. Dann dreht und dreht und dreht sich die Drehbühne, bis einem schwindlig wird, dann erstarren die Figuren hinter mächtigen Gazeschleiern zu Stein oder zu Eis, dann fuchteln brennende Fackeln durch die Nacht, oder es dröhnt – s’ist Krieg! – mit ohrenbetäubendem Lärm ein Original-Düsenjet über die Köpfe der Zuschauer hinweg. Als hätte Kusej sich gesagt: In der ästhetischen Krabbelkiste ist noch jede Menge drin – holen wir es raus! Als hangelte er sich von Nummer zu Nummer und wüsste doch nicht, was ihm die Barockoper als solche wohl sagen will. Dass Leidenschaft stets Leiden schafft? Oder dass es kaum weniger Entsetzliches auf der Bühne gibt als ein abgeschlagenes Haupt (nämlich dass des Pompeius), welches, in einer „heutigen“ Plastiktüte die Runde machend, von wehklagenden Altistinnen (nämlich von Cornelia, der Gattin) und blutige Rache schwörenden Sopranen (nämlich von Sextus, dem Sohn) möglichst kunstvoll angesungen wird?

An den weltweisen Witz und die schillernde Tiefe jedenfalls, die Nigel Lowerys „Rinaldo“ jüngst an der Staatsoper Unter den Linden entfaltete (siehe Tagesspiegel vom 19. Januar), reicht Kusejs Stuttgarter Händel-Versuch in keiner Weise heran. Und Richard Jones’ Münchner Kult-Aufführung des „Giulio Cesare“, in der die Sänger nicht nur im übertragenen Sinn mit Dynamitpäckchen zündelten und lebensgroße Dinosaurier auf offener Szene kollabierten, sie wirkt rückblickend wie ein Menetekel aus einer längst vergangenen Zukunft. Wie kann es sein, so fragt man sich, dass ausgerechnet das preisgekrönte Stuttgarter Opernhaus so weit hinter den Standards jener lustvollen, fruchtbaren Händel-Pflege zurückbleibt?

Rotkehlchen Cleopatra

Raymond Leppard, der Dirigent des Abends, mag das Seine dazu beigetragen haben. Die Sänger hingegen müssen auf diese Frage keine Antwort geben. Sie lieferten eine reife, saubere und sehr stilsichere Ensembleleistung ab – und blieben die Glanzlichter doch schuldig. Weder Helene Schneidermans in jeder Hinsicht gesitteter Cäsar noch Catriona Smiths mehr rotkehlchenhaft zwitschernde, denn lasziv funkelnde Cleopatra vermochten das Geschehen wirklich an sich zu reißen, und das galt letztlich auch für Tichina Vaughn als Cornelia und Claudia Mahnke als Sextus – so herzergreifend stimmschön beide das berühmte Schlussduett des ersten Aktes („Son nata a lagrimar“) auch gestalteten. Helmut Berger-Tuna (Curio), Helene Ranada (Achillas), Markus Marquardt (Ptolemäus) und Maria Theresa Ullrich (Nirena) rundeten dieses Bild gewissenhaft ab. Nun ist das Stuttgarter Staatsorchester zwar kein Spezialensemble für Alte Musik, aber etwas mehr Inbrunst, etwas mehr rhetorischen Drive und Drall hätte man sich aus dem Graben schon gewünscht. Indem Leppard die Sache insgesamt eher gemütlich anging und sich sowohl in den Tempi als auch in Fragen der Dynamik und der Artikulation rasch auf ein freundlich-breiiges Mittelmaß einpendelte, sahen die Musiker dazu wohl keinen Anlass. Von der einzigartigen Farbigkeit der Partitur jedoch, von ihrer geifernden Dramatik und ihrem Eros, ihrem Sog wurde auf diese Weise nichts ruchbar.

Dann also das „Nachspiel“: Wie ansatzweise schon im Finale des ersten Aktes so schälen sich die Figuren auch im Finale des dritten – und zwar im Moment des lieto fine! – aus ihren Kostümen und Rollen wieder heraus. Das Spiel hat ein Ende, Sturm heult auf, Trockeneisnebel wallen und die Pyramide verschwindet schmauchend in der Versenkung. Da stehen sie denn, die acht Menschen, und halten sich an ihren Passbildstreifen fest. Halb verstört, halb verzückt. Oder sind es die Fotos der anderen, des jeweils „besseren Ichs“ und alter egos, die Cäsar und Cleopatra heimlich tauschen? Ein letztes Wippen und Nicken im Takt, ein letzter Blick in den Bühnenkrater, dann schweigt auch die Musik. Als hätte es eine Oper, ein Leben nie gegeben.

Christine Lemke-Matwey

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