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Alte Meister, neu gesehen: Portrait des Künstlers als junger Mann

Sensation oder Fußnote? Der Fund von 100 Arbeiten des jugendlichen Caravaggio verändert das Bild seines Lebenswerks kaum.

Am Ende war es die Handschrift. Ein Zettel verriet den Schriftsachverständigen, dass der Autor der Zeilen ein gewisser Michelangelo Merisi sein müsse, bekannt unter dem Namen Caravaggio. Damit war der Fund zur Sensation erhoben: Wie gestern berichtet, haben die beiden italienischen Kunsthistoriker Adriana Conconi Fedrigolli und Maurizio Bernadelli Curuz nach zweijähriger Forschungsarbeit ein Konvolut von ungefähr 100 Zeichnungen – einschließlich weniger Gemäldefragmente – als Skizzen und Werke Caravaggios (1573–1610) identifiziert. Fundort der Sammlung ist das Mailänder Castello Sforzesco, wo der jugendliche Caravaggio bei Simone Peterzano in die Lehre ging.

Garniert mit dem Hinweis, nach heutigen Marktpreisen repräsentiere der Fund einen Geldwert in Höhe von 700 Millionen Euro, fand die Nachricht in Windeseile Verbreitung und schaffte es sogar in die ARD-„Tagesschau“. So verwundert es nicht, dass sich tags darauf Skeptiker zu Wort meldeten, die die Wahrscheinlichkeit eines solchen Fundes bezweifelten – mit ebenso guten Gründen wie die, die die beiden Forscher für sich geltend machen. Laut Claudio Strinati, Initiator der Caravaggio-Ausstellung in Rom 2010, ist es „völlig absurd“ zu glauben, dass rund 100 Werke der Peterzano-Sammlung von Caravaggio stammten: „Wenn Sie sich überlegen, wie viele Schüler Peterzano hatte, gibt es vielleicht 50 000 Zeichnungen. Niemand weiß, welche von den Schülern stammen.“ Überdies seien die meisten Zeichnungen „Übungen ohne künstlerische Bedeutung“ gewesen.

Näheres war gestern nicht zu erfahren: Der vermeintliche Coup von Fedrigolli und Curuz hat einen dicken Pferdefuß: Die angekündigte Veröffentlichung des 474 Seiten starken Forschungsberichts als E-Book ließ sich bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe über Amazon zwar käuflich erwerben, wegen technischer Probleme jedoch nicht öffnen. Der Fehler liege bei Amazon, man arbeite an der Lösung, hieß es aus Italien. Lediglich ein Werbevideo ist vorerst zu sehen (www.giovanecaravaggio.it).

Und schon der handschriftliche Zettel trägt den Zweifel in sich: Es gibt nicht viele Notizen Caravaggios, anhand derer sich Übereinstimmung feststellen ließe. „Die wenigen eigenhändigen Schriftstücke Michelangelos Merisis offenbaren einen nicht eleganten, aber geübten Schreiber“, bemerkt Sybille Ebert-Schifferer in ihrer bei Beck erschienenen Caravaggio-Monografie, die den Forschungsstand mustergültig zusammenfasst. Eine Abbildung zeigt eine flüchtig unterzeichnete Quittung aus dem Jahr 1602, zum Empfang von „20 scudi“ für Auftragsgemälde. Wie stets im Umgang mit den Spuren Alter Meister sind es Hypothesen, die sich hinter der Sensationsmeldung verbergen. Caravaggio – wie so viele italienische Künstler nach dem Ort seiner Geburt benannt – kam im Alter von 13 Jahren in die Werkstatt des Mailänder Hofmalers Peterzano, eines heute nahezu vergessenen Meisters aus der schier unendlichen Zahl italienischer Künstler aus Renaissance und Barock. Vier Jahre später verließ der junge „Michel Angelo“, wie sein Name damals geschrieben wurde, das Atelier. Aus dieser Zeit zwischen 1584 und 1588 stammen die jetzt identifizierten Zeichnungen. Es sind Schülerarbeiten eines sehr jungen Lehrlings, der nachzuformen hatte, was sein Meister ihm vorgab. Die Zeichnung war das selbstverständliche Medium solcher Übungen. An Gemälde, gar an eigenständige Kompositionen wird Peterzano seinen Zögling nicht einmal in dessen letztem Lehrjahr gelassen haben. Zudem hatte Peterzano als vielbeschäftigter Auftragsmaler zahlreiche Gehilfen.

Diese Umstände muss bedenken, wer jetzt eine „epochale Wende der Kunstgeschichte“ erwartet wie die italienische Zeitung „La Repubblica“. Selbst wenn sich die Hypothese der Autorschaft Caravaggios an den Zeichnungen festigen sollte, ist nicht mehr gewonnen, als etwas Licht in das Dunkel des Frühwerks zu bringen. Schifferer beklagt in ihrem Buch „die völlige Abwesenheit eines vorrömischen Frühwerks in den Quellen und im bislang bekannten Œuvre“ des Malers, der im Spätsommer 1592 nach Rom aufbricht und dort zum gefragten Maler aufsteigt. Das älteste bekannte Werk Caravaggios – nur in Kopie erhalten – ist ein „Frucht schälender Knabe“ wohl aus diesem Jahr, ein Bild, das bereits einen erstaunlich sicheren Umgang mit Licht und Dunkelheit zeigt, dem herausragenden Charakteristikum seines späteren Werks.

Das heißt nicht, dass sich unter den Blättern nicht äußerst frühreife Zeichnungen befinden können. Hat nicht Dürer im Alter von 13 Jahren sein berühmtes Selbstbildnis gezeichnet? Nur hilft das nicht bei der Beantwortung der Frage, wie aus dem unauffälligen Lehrling aus der Familie Merisi der berühmte, gefragte, skandalumwitterte Caravaggio wurde, zu dessen Ausstellungen auch Besucher pilgern, denen die Alten Meister sonst herzlich egal sind und dem der britische Filmemacher Derek Jarman 1986 seinen ingeniöses Kinodrama „Caravaggio“ gewidmet hat.

Die Forscher aus der lombardischen Stadt Brescia – der Ort Caravaggio liegt auf halbem Weg von dort nach Mailand – haben mit dem Computer Vergleiche ihrer Fundstücke mit gesicherten Werken Caravaggios vorgenommen und einzelne Köpfe identifiziert. Zudem wollen sie eine bestimmte Art der Anlage solcher Zeichnungen ausgemacht haben. Überraschend wäre es, überhaupt Zeichnungen von Michelangelo Merisi zu erkennen: Spätere Blätter sind nicht bekannt. Das Genie arbeitete nicht nach Vorskizzen, sondern aus einem geradezu fotografischen Bildgedächtnis heraus.

Caravaggio war ein Besessener

Allgemein waren Zeichnungen zur späteren Verwendung allerdings eine übliche Methode. Von Leonardo bis Dürer griffen Maler auf solche Blätter zurück, um figurenreiche Kompositionen biblischer Themen auszufüllen. Und Typen wie Söldner, Bettler, Hausmägde nahm man aus der eigenen Gegenwart, ihre Physiognomien, ihre Gesten, häufig sogar ihre Kleidung. Caravaggio hat sich freilich nicht auf Staffagefiguren beschränkt. Den Heiligen selbst hat er Züge des Alltags gegeben. In der Kirche St. Augustin in Rom hängt das Altarbild „Madonna von Loreto“ mit zwei knieenden Pilgern, denen der Katalog der epochalen Londoner Ausstellung „The Genius of Rome“ im Jahr 2001 bescheinigt, „die berühmtesten Schmutzfüße der Kunst zu besitzen“. Pikiert über solch drastischen Realismus zeigten sich jedoch erst die Theoretiker des Hochbarock, Jahrzehnte nach Caravaggios legendenumwobenen Tod 1610. Sie bemängelten das fehlende Ideal und warfen ihm vor – so Giovanni Bellori 1672 – die Malerei „verdorben“ zu haben.

Zurück zum Mailänder Fund: Simone Peterzano war gewiss nicht der große Künstler, dessen Hinterlassenschaft Ziel umfangreicher Forschungskampagnen hätte sein müssen. Das Castello Sforzesco, diese Zwingburg Mailands und der Lombardei, in der die Zeichnungen ans Licht kamen, ist ein gewaltiger Komplex, ab 1450 errichtet, mehrfach umgebaut und restauriert. Noch Caravaggios frühestes Gemälde des Früchte-Knaben zeigt – so Ebert-Schifferer – eine „konventionelle Komposition, die sich stilistisch eng an Peterzano anlehnt“. Was den reifen Caravaggio ausmachte, lässt sich aus Schülerarbeiten gewiss nicht ablesen. Erst nach dem Erstling vollzieht sich der Sprung in die Originalität, die das Genie ausmacht.

Im unvollständig erschlossenen Lebenswerk dieses Genies, das eine rabaukenhafte Existenz voller Schlägereien und Gerichtsvorladungen samt Flucht nach Malta führte, wollen heute viele Forscher fündig werden. Es vergeht kaum ein Jahr, in dem nicht der „Sensationsfund“ eines unbekannten Gemäldes vermeldet wird. Die überwältigende Ausstellung des Spätwerks in Neapel und London 2004/5 fügte deshalb eigens das Kapitel „Neue Vorschläge“ hinzu.

Caravaggio war ein Besessener: besessen von seiner Malerei, aber auch von der Religiosität seiner Zeit. Damals ging es „im Interesse gegenreformatorischer Frömmigkeit um existenzielle Wahrheit“ (Ebert-Schifferer). So malte Caravaggio schmutzige Füße, um die Wahrhaftigkeit seiner Pilger zu bezeugen. In der Mailänder Werkstatt des Peterzano musste er sich mit dem Kopieren von Porträtköpfen begnügen. Er erlernte das Zeichnen, um es später weglassen zu können.

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