zum Hauptinhalt

Kultur: Alzheimer: Vergessen

Es ist schon merkwürdig. Während die Politiker beim eher abgehobenen Thema Gentechnik und Stammzellen die Lust am Disput gepackt hat, scheint sie ein drängendes Gesundheitsproblem, das große Teile der Bevölkerung betrifft, wenig zu interessieren.

Es ist schon merkwürdig. Während die Politiker beim eher abgehobenen Thema Gentechnik und Stammzellen die Lust am Disput gepackt hat, scheint sie ein drängendes Gesundheitsproblem, das große Teile der Bevölkerung betrifft, wenig zu interessieren. In Deutschland leben zwischen 1,1 und 1,6 Millionen Menschen, die unter geistigem Verfall (Demenz) leiden. 60 bis 70 Prozent von ihnen sind an der Demenz vom Alzheimer-Typ erkrankt. Kurz gesagt: Sie haben Alzheimer.

Eher von Lustlosigkeit geprägt sind die Bundestags-Debatten über Alzheimer und andere Altersleiden. Und sie finden meist vor leeren Reihen statt, wie die Zeitung "Die Woche" kürzlich feststellte. Das Thema ist nicht "sexy", und manche Politiker werden sich sagen: "Machen kann man da sowieso nichts." Dabei hat die Krankheit nicht nur dramatische Folgen für die Betroffenen und ihre Angehörigen, sondern ist auch ein wachsendes soziales, gesellschaftliches und politisches Problem.

Denn der wichtigste Risikofaktor für Alzheimer ist das Alter, und angesichts einer alternden Gesellschaft wächst auch die Zahl der Alzheimer-Kranken. Nach amerikanischen Erhebungen sind mit 65 Jahren drei Prozent erkrankt, jenseits der 85 ist fast jeder zweite betroffen.

Viele Alzheimer-Kranke leben zehn Jahre mit ihrem Leiden, manche gar 20. Das macht jahrelange Pflege rund um die Uhr erforderlich. Mit bis zu 2,2 Millionen Demenz-Kranken rechnet das Kieler Institut für Gesundheitssystem-Forschung im Jahr 2020. Die Versorgungskosten belaufen sich schon heute auf rund 80 Milliarden Mark. Bezahlbar ist das Ganze wohl ohnehin nur, weil drei von vier Alzheimer-Patienten zu Hause betreut werden und dabei zu wenig Geld aus der Pflegeversicherung erhalten.

"Ich beginne jetzt die Reise in die Abenddämmerung meines Lebens." Mit diesen erschütternden Worten hat sich der ehemalige US-Präsident Ronald Reagan vor sieben Jahren von seinen Landsleuten verabschiedet. Alzheimer verschont auch die Mächtigen und Prominenten nicht: Auch der SPD-Politiker Herbert Wehner, Bundespräsident Heinrich Lübke, die Schauspielerin Rita Hayworth, Fußball-Bundestrainer Helmut Schön und der Musiker Helmut Zacharias wurden Opfer der Krankheit. Sie haben Alzheimer ein Gesicht gegeben, das Leiden damit öffentlich gemacht.

"Der Geist stirbt bei der Alzheimer-Krankheit, aber die Seele lebt bis zum letzten Atemzug", hat der Ehemann einer Kranken es einmal ausgedrückt. Wehners Frau Greta, die ihren Mann acht Jahre lang pflegte, erinnert sich an ein besonders eindrückliches Erlebnis. Ein Arzt besuchte ihren Mann und stellte ihm eine Frage. Wehner aber konnte gar nicht mehr sprechen. Der Mediziner sagte daraufhin zu ihm: "Ich weiß, Sie sind sehr, sehr schwer krank!" - "Und das ging wie ein Aufatmen durch Herbert! Er muss also immer im Kopf gehabt haben, er sei verrückt", sagt seine Frau.

Auch einem scheinbar reaktionslosen Alzheimer-Kranken hilft es, wenn man ihm sagt, woran er ist, wenn man mit ihm spricht und ihn begleitet. "Pflege der Seele" könnte man das nennen.

"Hirn-Jogging" statt Tabletten

Der Name der Krankheit ist längst zum Kalauer geworden. Wer einmal etwas vergisst, kann sich anhören, dass er wohl Alzheimer habe. Aber mit der gewöhnlichen Vergesslichkeit, wie sie im Alter häufiger wird, hat das Leiden nur wenig zu tun. Denn die Gedächtnislücken werden so groß, dass der Alltag nicht mehr bewältigt wird. Die Kranken verlieren die Orientierung, sie finden nicht mehr nach Hause und vergessen mehr und mehr, wer sie sind oder waren. Urteils- und Denkfähigkeit zerfallen, Verwirrung und Ratlosigkeit schlagen nicht selten in Entsetzen und Verzweiflung um. Dem geistigen folgt der körperliche Verfall.

Amerikanische Verhaltenspsychologen sehen in der Krankheit so etwas wie eine Zeitreise zurück in die Kindheit, eine stufenweise Rückentwicklung. Stück für Stück verlieren die Patienten ihre intellektuellen Fähigkeiten: Sie werden berufsunfähig, können mit Geld nicht mehr umgehen, sich schließlich nicht mehr anziehen oder sauber machen. Die Kontrolle über Blase und Darm geht verloren, und das Sprachvermögen wird schrittweise demontiert, bis die Patienten verstummen. Andere, auf Außenstehende unverständlich oder gar aggressiv wirkende Verhaltensweisen der Alzheimer-Kranken sehen Forscher heute als fehlgeschlagene Versuche der Patienten, mit ihrer Umwelt in Kontakt zu treten oder richtig auf sie zu reagieren.

Vielleicht ebnet dieses Verständnis der Krankheit auch einen Weg zu den Kranken. Sie werden zu Kindern, die stammelnd und mit Windeln umherlaufen. Umso mehr Zuwendung und Training brauchen Alzheimer-Patienten, um mit einem schmaler werdenden Inventar an intellektuellen Werkzeugen noch so lange wie möglich zurechtzukommen. Für Angehörige wiederum kann diese Sichtweise helfen, der Resignation oder Verzweiflung etwas entgegenzusetzen. Denn bis heute ist die Alzheimer-Krankheit unheilbar.

Zwar sind ihre molekularen Wurzeln inzwischen gut untersucht, doch gibt es bisher nur wenige Medikamente, die günstige Effekte zeigen. Das Leiden für eine gewisse Zeit lindern können Präparate aus der Gruppe der Cholinesterase-Hemmer. Und das Fachblatt "New England Journal of Medicine" bewertet noch zwei andere Mittel positiv: "Alpha-Tocopherol (Vitamin E) und Selegilin verzögern die Entwicklung der Alzheimer-Spätstadien. Aber es ist schwer zu sagen, ob eine Verzögerung von 20 oder 30 Wochen bei einer Krankheit von Bedeutung ist, die ein Jahrzehnt oder länger dauert." Vitamin E ist in hohem Maße in Pflanzenöl, Nüssen und grünem Gemüse enthalten.

Die Behandlung von Demenzen wie der Alzheimer-Krankheit geht heute über die Gabe von Medikamenten weit hinaus. Das geistige und körperliche Trainingsprogramm umfasst "Hirn-Jogging", Essen mit Messer und Gabel, selbstständige Körperpflege, Realitätstraining, kleine Aufgaben im Alltag - Gemüse schneiden in der Küche etwa - und vieles mehr.

Viele Angehörige zögern lange, ehe sie professionelle Hilfe einschalten. Damit gefährden sie sich nicht selten selbst, denn die Pflege will nicht nur gelernt sein, sondern kann die Kinder oder den Lebenspartner völlig erschöpfen. Nach einer amerikanischen Studie sind 75 Prozent der pflegenden Angehörigen depressiv. Greta Wehner sagt, nur mit "völliger Hingabe" habe sie ihren Mann pflegen können. Die aber wird die meisten Menschen überfordern.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false