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Kultur: Am anderen Ende der Zeit

Die Hauptrolle im neuen Film des Amerikanischen Kultregisseurs spielt ein Rasenmäher der Marke John DeereSilvia Hallensleben Ein John Deere ist nicht irgendein Rasenmäher. Erstmal ist ein John Deere knuffig und grasgrün wie ein altes Corgy-Toys-Auto.

Die Hauptrolle im neuen Film des Amerikanischen Kultregisseurs spielt ein Rasenmäher der Marke John DeereSilvia Hallensleben

Ein John Deere ist nicht irgendein Rasenmäher. Erstmal ist ein John Deere knuffig und grasgrün wie ein altes Corgy-Toys-Auto. Zweitens kommt er aus Amerika. Das heißt, er ist mindestens doppelt so groß wie wir einen Rasenmäher kennen. Einen John Deere reitet man, statt ihn zu schieben. Drittens ist so ein John Deere für die Ewigkeit gemacht, noch echte Handwerkskunst. Vielleicht wird ihn bei uns demnächst die Firma "Manufaktum" vertreiben.

Der Rasenmäher spielt eine Hauptrolle in David Lynchs neuestem Film. Die anderen drei geben zwei alte Männer und die Landschaft des Mittelwestens. Einer der Männer ist Alvin, 74 Jahre alt, ein störrischer Weißbart mit Holzfällerhemd, der mit Tochter Rose (Sissy Spacek) ein Kleinstadthäuschen in Iowa bewohnt. Der andere, der Stuntman und Schauspieler Richard Farnsworth, ist noch ein paar Jährchen länger auf der Welt und hier sein Alter Ego. Farnsworth ist ein Hollywoodveteran. 1938 als mongolischer Reiter für Mayos "Marco Polo" nach Hollywood eingeritten, hat er es 1977 mit Pakulas "Comes A Horseman" sogar zu einer OscarNominierung gebracht. "The Straight Story" könnte ihm diesen nun bescheren. Richard und Alvin haben die gleichen Furchen, beide ein Hüftleiden. Richard ist Alvin. Sogar seine eigene Kleidung hat Farnsworth in die Rolle eingebracht. Alvin ist Richard. Der eine tritt in diesem Film seine wohl letzte Rolle an, der andere seine letzte Reise. "The Straight Story" erzählt vom Alter. Und er erzählt davon, wie Alvin sich auf die Straße macht, um sich vor dem Lebensende mit seinem Bruder Lyne, der ein paar hundert Meilen entfernt in Wisconsin lebt, zu versöhnen. Einen Führerschein hat er nicht. Sich chauffieren zu lassen, ist er zu stolz. Also bastelt er sich einen Hänger mit dem Notwendigsten zusammen, nimmt seine Krücke, kraxelt auf seinen alten Rasenmäher und rattert los.

Eine Geschichte, die so skurril ist, dass sie auf Tatsachen beruhen muss. Fünf Jahre ist es her, da machte sich Alvin Straight auf die Reise. Jetzt ist das Filmteam seinem Reiseweg entlang den Originalplätzen fast in Originalzeit gefolgt. Sechs Wochen hat Alvin für seine Reise gebraucht, abenteuerliche Wochen zwischen vorbeidröhnenden Trucks und Maisfeldern, Steilabfahrten, Rennradlern und Lagerfeuern. Viele der Menschen, die Alvin trifft, sind auch alt, die meisten ebenso bedächtig, fast alle herzensgut.

Nun, könnten Sie sagen, ist ja alles gut und schön, aber das soll David Lynch sein, unser Mann fürs Bizarre und Abgründige? Wie hat der sich von seinem "Lost Highway" auf die gemütliche Landstraße verirrt? Liegt nicht wenigstens irgendwo ein Ohr herum? Tut es nicht. Sicher, auch hier ist Lynchland: Weiße Schachtelhäuschen, Wassersprenger, Rasengrün. Auch hier ist nicht alles so harmlos, wie es aussieht. Aber vieles doch. Vor allem aber: Was sich da auftut, das sind nicht Abgründe, sondern sentimental-familiäre Lebensdramen - ein verstörendes Kriegserlebnis als Grund für brüderliches Zerwürfnis, die staatliche Fürsorge, die Rose die Kinder entzogen hat. Manchmal flammt, blitzt und raschelt es, wie wir es gewohnt sind. Doch die Ungeheuer bleiben in der Kiste.

"The Straight Story" bewegt sich in dem Zeitlupentempo, das die fünf Stundenmeilen des Rasenmähers vorgeben. Auch sonst scheint die Zeit fast stillzustehen im Mittelwesten. Von ganz oben, aus einem künstlichen Sternenhimmel heraus, schraubt sich die Kamera auf das Land herab. Immer wieder schweift der Panoramablick über die Hügelketten. Kein Fernseher weit und breit, selbst das angebotene Mobiltelefon mag Alvin nicht sachgerecht benutzen. Ein Gegenentwurf zur Betriebsamkeit der Medienindustrie mit ihren immer hektischeren, gewalttätigeren Produkten ist dieser Film. Es gibt sie noch, die guten Dinge.

Natürlich schreitet die Zeit doch voran. Wird Alvin Lyle noch lebend antreffen? "The Straight Story" steckt an mit ihrem bedächtigen Rhythmus. Und ist eine "Straight Story" in mehrfachem Sinn: Geradlinig wie die Landstraße. Geradeheraus wie Alvin. Aber auch "straight" im Normalo-Gegensinne zu "queer". Gnadenlos nett und gut und normal sind hier alle. Böse ist die große Welt draußen. Lynch, darüber sollte man sich nicht täuschen, war schon immer ein Konservativer. Ein Märchenerzähler sowieso. Hier hat er sich einmal von der dunklen auf die Drei-Wünsche-Seite der Märchenwelt geschlagen. Rückblickend wirft dieses Positivbild auch auf einige seiner früheren Arbeiten ein klärendes Licht. Mit dem Gleichnis von der Familie, die die leicht zu brechenden Zweige der Einzelnen zum Bündel zusammenschließt, versucht Alvin eine schwangere Ausreißerin zur Heimkehr zu überreden. Am Morgen ist das Mädchen verschwunden, in der Feuerstelle liegt ein Bündel Zweige. Wie mag es ihr ergangen sein?In Berlin in den Kinos Capitol, Cinemaxx Colosseum, Delphi, Filmtheater am Friedrichshain, Hackesche Höfe, Odeon (OmU), Yorck.

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