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Kultur: Am Anfang stand die Schuld

Brillantes Leseabenteuer: David Graeber erzählt die Geschichte von Kredit, Zins und Verschuldung.

Die Staatskasse ist ausgezehrt nach Jahren des Krieges. Die Bürger sind massenhaft überschuldet und verlieren Haus und Hof an ihre Gläubiger. Die Wirtschaft darbt und das Volk protestiert – so erleben derzeit viele Millionen Amerikaner ihr Land. Aber so erging es vor 4400 Jahren auch schon den Untertanen des Sumererkönigs Emmetena. In großer Zahl waren sie infolge schlechter Ernten und hoher Zinslasten in Schuldknechtschaft bei den reichen Tempelhändlern geraten. Massenabwanderung und wirtschaftlicher Niedergang drohten, und so blieb dem König nichts anderes übrig, als „sämtliche fälligen Zinszahlungen“ zu streichen. Emmetena nannte es die „Einführung der Freiheit“ in seinem Reich, und seine Verfügung war der erste schriftlich dokumentierte allgemeine Schuldenerlass in der Geschichte der Menschheit.

Ginge es nach dem amerikanischen Anthropologen David Graeber, dann wäre der Befreiungsakt von einst das Modell für die von privater und öffentlicher Überschuldung geplagten kapitalistischen Krisenstaaten von heute und der Schlüssel zur Entwicklung einer neuen, menschlicheren Wirtschaftsordnung. Seinen „Vorschlag“ stellte er an den Schluss seines nun auch auf Deutsch erschienenen Werkes über die Geschichte von Kredit, Zins und Verschuldung – ein Buch, das an philosophischer Tiefe und intellektueller Kühnheit kaum zu überbieten ist. „Schulden – die ersten 5000 Jahre“ klingt unbescheiden, aber Graeber bietet ein opulentes Leseabenteuer, das dem Titel durchaus gerecht wird.

Sein Ausgangspunkt ist ein Frontalangriff auf die Vorstellung der Ökonomen über den Ursprung des Geldes, wie sie schon Adam Smith formulierte und wie sie bis heute in zahllosen ökonomischen Lehrbüchern verbreitet wird. Demnach organisierten die Menschen der Frühzeit ihre wirtschaftlichen Beziehungen untereinander als Tauschhandel. Und weil das irgendwann zu umständlich wurde, „erfanden“ sie das Geld. Doch für diese „naive“ Theorie, so spottet Graeber, gebe bis heute keinen einzigen Beleg. Tatsächlich, und das zeigt er mit einer Überfülle von Quellen aus allen Epochen, war der Handel von Gütern mittels eines wie auch immer gearteten Tauschmittels über Jahrtausende eher die Ausnahme als die Regel. Stattdessen beruhten die meisten wirtschaftlichen Beziehungen außerhalb der Familie auf gegenseitigen Verpflichtungen aller Art, Schulden, bei denen die meisten Menschen Gläubiger und Schuldner zugleich waren. Dieses ursprüngliche Beziehungsgeflecht, der „alltägliche Kommunismus“, wie Graeber es nennt, spiegelt sich bis heute in fast allen Sprachen. „Jemandem etwas schuldig sein“ sei nicht abgeleitet aus finanzieller Schuld, sondern umgekehrt war es diese soziale Verpflichtung, die später begrifflich – und moralisch – auf die Geldsphäre übertragen wurde. Schulden dieser Art, also das Netzwerk von personengebundenen Verpflichtungen, waren „der Stoff, aus dem Gemeinschaft war“, erklärt Graeber. Und wo weiträumiger Handel nötig wurde, weil es wie einst in Mesopotamien zwar ausreichend Nahrung, aber sonst wenig gab, wandelte sich die persönliche Schuld schon vor 5000 Jahren in Kredit – ein Umstand, der vermutlich sogar der Anlass war, die Schrift zu erfinden. Denn die große Mehrzahl der frühen mit Keilschrift beschriebenen Tontafeln aus dem Zweistromland dokumentierten Kredite, die Bauern und Händler bei den Verwaltern der Tempel und zugehörigen Lagerhäuser hatten.

„Kreditsysteme gingen der Einführung von Münzgeld also um Jahrtausende voraus“, konstatiert Graeber und beschreibt überzeugend, wie sich erst mit der Entwicklung der Großmächte der Antike Geld als Währung und Rechnungseinheit durchsetzte. Seine Kernthese lautet, dass es die Kriegsherren jener „Achsenzeit“ waren, die solche Zahlungsmittel benötigten, um ihre Söldner mit einem leicht transportablen Gut zu entlohnen, und darum ihrerseits solche Münzen zur Steuerzahlung von Bauern und Händlern einforderten, so dass diese gezwungen waren, ihre Produkte gegen ebendiese vom Staat geprägten Münzen einzutauschen. Verblüffenderweise geschah dies fast zeitgleich im antiken Mittelmeerraum, in Indien und sogar China. Die Beschreibung der vielen Analogien in der Geschichte dieser so verschiedenen Völker ist eines der spannendsten Kapitel des Buches.

Graeber verwendet viel Mühe darauf, herzuleiten, dass es die Entpersönlichung der wirtschaftlichen Beziehungen während der endlosen Kriege war, die das hervorbrachten, was wir heute Geld nennen. Anonymes Bezahlen mittels Münzgeld war demnach Ergebnis von Gewalt und Versklavung. Das liest sich zuweilen sehr gewollt, eröffnet aber auch überraschende Einsichten. So etwa, dass der oft behauptete „Rückfall in den Tauschhandel“ während des Mittelalters gar nicht stattgefunden hat. Vielmehr wurden die römischen Rechnungseinheiten noch über Jahrhunderte weiterverwendet, aber eben auf Kreditbasis und mit schriftlichen, personengebunden Wechseln. Gold und Silber dagegen landeten mit dem Vordringen des Christentums, des Islam und des Buddhismus fast nur noch in den Kirchen und Klöstern. Aus Sicht der meisten Menschen, so Graeber, war das auch keineswegs ein Rückschritt. Denn damit einher ging die Abschaffung des Sklavenhandels und damit der schlimmsten Form von Gewalt.

Die größte Stärke von Graebers Parforceritt durch die Geschichte ist seine Beweisführung, dass es niemals eine Trennung zwischen Markt und Staat gegeben hat, ja gar nicht geben kann. Denn zu allen Zeiten waren und sind Herrscher und Regierungen auf der einen sowie Händler und Produzenten auf der anderen Seite aufs Engste verbunden. Die Vorstellung der Ökonomen vom Markt, der unabhängig vom Staat existiert, ist nur ein Modellkonstrukt, so wie die Sehnsucht nach einer vom Körper getrennten Seele. Tatsächlich sind Markt und Macht immer die zwei Seiten der Wirtschaft.

Das gilt auch für den Ursprung des Kapitalismus. Dabei, schreibt Graeber, sei „die auf dem Kredit beruhende Wirtschaftsordnung des Mittelalters] in eine auf Zinsen beruhende Wirtschaftsordnung verwandelt“ worden. Die Antike mit ihrer Zinswirtschaft hatte eine endlose Folge von Schuldenkrisen hervorgebracht. Darum war es nach Auffassung von Graeber nur logisch, dass die christlichen Kirchenväter genauso wie die islamischen Rechtsgelehrten und die konfuzianischen chinesischen Kaiser den Zinswucher mit aller Macht bekämpften. Auch das jüdische „Jubeljahr“, die regelmäßigen Schuldenerlasse, gehören in diesen Kontext. Die erneute „Legalisierung der Zinsnahme“ durch Könige und ihre Gerichte ging einher mit dem Siegszug des Protestantismus, der dafür den ideologischen Überbau lieferte, wie Graeber anhand von Luthers Schriften belegt. Und die Durchsetzung des Papiergeldes sowie der anonymen Kapitalgesellschaft stand in direktem Zusammenhang mit den Kriegsschulden der jeweiligen Herrscher und ihren kolonialen Eroberungen. So waren alle finanziellen Instrumente des Kapitalismus schon lange vor der industriellen Revolution weit verbreitet. Und prompt setzten damit auch die Schuldenkrisen und Spekulationswellen wieder ein, die seit der holländischen Tulpenmanie im Jahr 1637 als unausrottbare Geißel des Kapitalismus gelten. Von dort bis zum Finanzkapitalismus von heute ist es für Graeber nicht mehr weit. Und je näher er der Gegenwart kommt, umso mehr wird auch sein Leben als Politaktivist erkennbar, das er als „Anarchist“ und Mitbegründer der Occupy-Bewegung neben seinem Gelehrtendasein führt.

Doch das trübt keineswegs seinen Scharfblick. So gipfelt seine Betrachtung der jüngeren Geschichte in der Überlegung, dass der Kapitalismus stets dann am besten funktioniert habe, wenn seine Profiteure mit dem nahen Ende durch Revolution oder Depression rechneten. Denn dann, so wie auch während der Bedrohung durch den Staatssozialismus, trafen sie Vorkehrungen, um den möglichen Untergang abzuwenden und Exzesse zu verhindern. Immer wenn sie das System für ewig hielten, setzten dagegen Spekulationswellen und Krisen ein. So verstanden ist die Kritik am Kapitalismus auch dessen Lebenselixier. Genau wie jene, die auch Graeber so brillant formuliert.









– David Graeber:
Schulden. Die ersten 5000 Jahre. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2012. 536 Seiten, 26,95 Euro.

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