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Kultur: Am Rand spielt das wahre Leben

Er schießt aus Brusthöhe. Einhundertstelsekunden.

Er schießt aus Brusthöhe. Einhundertstelsekunden. Mehr braucht er nicht. Und sein Gegenüber bekommt häufig nicht einmal etwas davon mit. Camilo José Vergara sammelt Berlin ein, in Tausenden von Bildern. Die Menschen und Orte des alltäglichen Lebens, Imbissbuden, Bahnhöfe. Er ist Fotograf. Immer mit der Kamera unterwegs, den Fernauslöser versteckt er unter seiner Jacke. Klick. Wenn ein Fahrgast die U-Bahn betritt. Klick. Wenn einer die Rolltreppe hochkommt. Vergara ist Stipendiat der American Academy, bis Mai wird er noch hierbleiben. Vergara ist ein Dokumentar. Er fotografiert das Jetzt für später. Wie verändert sich die Stadtlandschaft?

Die Busse und Trams und U-Bahnen bringen den 66-Jährigen genau dorthin, wo es ihm am interessantesten erscheint. Vergara interessiert sich nicht für die Mitte, er interessiert sich für die Ränder – der Gesellschaft. Er fährt nach Marzahn, Wedding, Lichtenberg, Neukölln. So macht er das auch in den Staaten, in Detroit, Chicago, New York oder Los Angeles. Meist fotografiert Vergara Gebäude und Plätze. Die Fassaden erzählen etwas über die Menschen, die dort leben. In der New York Times etwa erschien eine Fotoserie mit lauter verlassenen Tankstellen. Verwittert und überwuchert. Drumherum spielen Kinder Fußball, ein Auto hat hier keiner mehr.

In Berlin habe er sich auf die Suche nach Ghettos gemacht, sagt er. Aber er habe keine gefunden. Er sei hier bisher keinem einzigen Faustkampf begegnet. „Die Leute sollen dankbar sein für so eine friedvolle Gesellschaft“, sagt er, der Gast. Vergara kam 1944 in Santiago in Chile zur Welt, er lebt in New York. Nur der Berliner Winter hat Vergara vor neue Herausforderungen gestellt. Denn der ist grau und finster. Und der amerikanische Fotograf arbeitet ohne jedes inszenatorische Hilfsmittel, ohne Blitz. „Das Licht war zu dunkel, um weite Stadtansichten zu fotografieren“, sagt er. Also holte er sich die Menschen vor die Linse, zoomte Details heran.

Wie die Wurstbude am Antonplatz in Weißensee. Da hängen in einem Wagen Pfefferbeißer, grobe Mett und Schinkenknacker in einer dunkel angestrichenen Nische nebeneinander, angeleuchtet von einem Scheinwerfer. Die Preisliste steht auf zwei Flügeltüren geschrieben. Vergara gefällt das. Er nennt das Bild „Altar zur Anbetung der Wurst“. So kann man das sehen, tatsächlich. Ein Triptychon. „Warum fotografierst du so etwas, fragen mich die Leute“, erzählt Vergara „Und dann finden sie es plötzlich auch interessant.“ Vergara hat den Blick des Fremden. Er nennt diese Serie „The Mysteries of Berlin“. Dazu gehört auch ein Bild des ehemaligen DDR-Schnellzugs, der auf einem Abstellgleis in Lichtenberg von vergangenen Zeiten erzählt. Oder eine Männertoilette in einem türkischen Restaurant, wo die Pissoirs so eng über Eck angebracht sind, dass unmöglich zwei nebeneinander stehen können. „Ich will die Geschichten dieser Stadt finden“, sagt der studierte Soziologe. Er will den Geist festhalten.

Zurzeit hat Vergara Besuch von seinem Sohn. Der ist Anfang zwanzig. Als es so schön sonnig war, haben die beiden eine Bootsfahrt auf der Spree gemacht, aber irgendwie kamen sie sich komisch vor, sagen sie. Auch wenn beide aussehen wie ganz normale Touristen, Vergara trägt ein bequemes Holzfällerhemd und Dreitagebart, um ihrer beiden Hälse baumelt jeweils eine Kamera. Sie wollen doch etwas ganz anderes von der Stadt als die meisten anderen Besucher. Der Ostbahnhof, das sei zum Beispiel ein großartiger Ort, findet der Künstler. Hier trifft er jene Typen, in deren Gesichtern sich das Leben abspielt. Einmal hat Vergara mit seiner Kamera einen jungen Mann in der Tram erwischt, der fast im Sitz verschwand, weil er eine wild gemusterte Jacke trug, ähnlich dem Bezug. „Ich dachte, so eine Jacke kann man nur in Russland kaufen“, erinnert sich Vergara. Der Sohn kann sich das Grinsen nicht verkneifen. Es war die Marke eines kalifornischen Surf-Labels.

Eine kleine Anekdote, die aber bezeichnend ist für Vergaras Arbeit. Immer wieder stößt er auf ganz klassische Fragen der Ethnografie. Kann ich eine Gesellschaft erfassen, der ich nicht angehöre, deren Sprache ich nicht spreche? Vergaras Arbeitsweise ist wissenschaftlich präzise. Er fährt systematisch von einem Ort zum anderen, er notiert zu jeder Aufnahme den Entstehungsort, die Zeit und Beobachtungen. Zu seinen Langzeitstudien, die in amerikanischen Zeitungen oder als Bücher erscheinen, gibt er lange Erklärungen darüber ab, wie er vorgegangen ist.

Welch Mammutprojekte er stemmt, lässt sich auf seiner Internetseite verfolgen. Dort kann der Besucher etwa Harlem besuchen. Auf einem Stadtplan sind alle Standpunkte genau eingezeichnet, auf einer Zeitleiste kann man sich von einem Jahr zum nächsten und von Bild zu Bild klicken und so den Wandel der Stadt verfolgen, von 1977 bis 2009. Vergara schwebt eine ganze Bilder-Enzyklopädie amerikanischer Ghettos vor. Das wird sein nächstes großes Projekt.

Was aus seiner Serie mit den U-Bahn- Gästen geschehen soll, mit diesen ahnungslosen Gesichtern, die ganz in ihre eigene Welt versunken zu sein scheinen, Ehepaare, junge Türkinnen, hektische Reisende, das weiß Vergara noch nicht. Und am liebsten wäre es ihm, er könnte die Aufnahmen mindestens fünf bis sechs Jahre ruhen lassen. Um sie dann herauszuholen. Die Zeit soll für ihn arbeiten, die Fotografien sollen zu Erinnerungsstücken geworden sein. Dann kann man den Zeitgeist allein darin spüren, was die Menschen für schwere Ledermäntel und Mützen trugen. Damals im Winter 2010.

Vergaras Onlinegalerie: www.invinciblecities.camden.rutgers.edu

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