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Kultur: An Britneys Geburtstag

Felicitas Bruckner bringt den Film „Lilja 4-ever“ ins Berliner Gorki-Theater

Die Zeiten, in denen Theaterverlagslektoren zur Entspannung ins Kino gehen konnten, sind definitiv vorbei. Kaum zeichne sich ab, dass ein Film gut sei, sagt Nils Tabert vom Rowohlt-Verlag, müsse sein Berufsstand fieberhaft überlegen, wer sich wohl bereits die Finger wegen der Theaterrechte wund telefoniert.

Jenseits kurzfristiger Besucherzahlenerfolge ist die Frage, warum Filmstoffe eine derartige Bühnen-Konjunktur haben, schwer zu beantworten: Die Fälle, in denen Regisseure dem Stoff tatsächlich eine eigene Perspektive abgewinnen, lassen sich an einer Hand abzählen. In aller Regel erschöpft sich die theatrale Zweitverwertung in einem Nacherzählungsaufguss mit beschränkteren Mitteln. Das ist – um es gleich vorwegzunehmen – auch in Felicitas Bruckers Inszenierung „Lilja 4-ever“ nach Lukas Moodyssons Film von 2002 nicht grundsätzlich anders.

Gelingt es einem allerdings, diesen Fakt zu akzeptieren und schnell abzuhaken, kann man in der Inszenierung der 34-jährigen Regisseurin durchaus bemerkenswerte Details entdecken. Brucker, die am Gorki 2007 mit Goethes „Urfaust“ grandios gescheitert war – eher überambitioniert als unterkomplex, was gegenwärtig ja eine Menge ist – hat sich mit „Lilja 4-ever“ harten, sozialrealistischen Stoff ausgesucht: In der postsowjetischen Tristesse lässt eine Mutter ihre 16-jährige Tochter zurück, um selbst mit dem Lover in die USA aufzubrechen. Als Zuschauer fragt man sich bereits nach diesem ersten K.-o.-Schlag, wie das Mädchen es eigentlich schafft, wieder aufzustehen, sich den Dreck von den Klamotten zu wischen und weiterzulaufen: Ein Vorgang, der sich im Laufe des Films bis zur Unerträglichkeitsgrenze wiederholt, wobei Rohheit und Demütigungsgrad der Anfangsszene bald wie eine Musterlektion in Humanismus wirken. Doch als Lilja schließlich – nach Schweden geschleust und zur Prostitution gezwungen – Wohlstandsbürgern als Sklavin zu dienen hat, ist selbst ihr Lebenswille aufgebraucht.

Brucker ersetzt den filmischen Sozialrealismus durch die Modellhaftigkeit einer grauen Kastenbühne (Ulrike Siegrist): Die lange thekenhohe Box im Gorki-Studio enthält lauter aufklappbare Minikammern, in denen Liljas Leidensstationen jeweils mit wenigen symbolträchtigen Requisiten angedeutet werden. Brucker verschiebt nicht merklich den Fokus des Films, spitzt aber – beispielsweise durch Mehrfachbesetzungen – einige Aussagen deutlich zu. Volodja, ein zwölfjähriger Junge, der von seinem Vater regelmäßig aus der Wohnung geworfen wird, Lilja einzig die Treue hält und seinem eigenen Opferstatus zum Trotz als einziges Hoffnungsprinzip firmiert, ist bei Brucker eine gespaltene Persönlichkeit: Dem kleinen unschuldigen Jungen – grandios gespielt vom 16-jährigen Arthur Romanowski – stellt sie durch den Darsteller Max Simonischek bereits jenes männliche Prinzip zur Seite, dem Lilja später so existenziell ausgeliefert ist: Simonischek mutiert zum innerlich vollständig abgestorbenen Schleuser, der die Verbrechen, die an ihm selbst begangen wurden, empfindungsfrei weitergibt. Dass er dies wortwörtlich kundtut, wäre allerdings nicht nötig gewesen – das Signal ist auch so deutlich genug.

Ähnlich verhält es sich mit den Bildern, die Brucker entwirft. Sie zeigt sich hier als eine der wenigen jungen Regisseurinnen, die sich noch dem klassischen Berufsverständnis verpflichtet fühlen, Stoffe tatsächlich in szenische Vorgänge zu übersetzen und zu verdichten. Wenn mal wieder der verschmierte Lippenstift als Symbol für weibliches Demütigungsleid herhalten muss, ist das recht plakativ. Manchmal aber schnurrt in einem Brucker-Bild auch ein ganzer Gegenwartsdiskurs zusammen. Zum Beispiel, wenn Lilja Volodja erzählt, dass sie am gleichen Tag wie Britney Spears geboren ist und plötzlich in einer unglaublich gekonnten kindlichen Linkischkeit mit Hüftkreisen und Augenaufschlag die Pop-Inszenierung vom jungfräulichen Luder aufruft. Vor dem knallharten Zwangsprostitutionshintergrund erzählt diese Lolita- Nummer mehr und Komplexeres über den gesellschaftlich-sexuellen Status quo, als man eigentlich je wissen wollte. Was wiederum nicht zuletzt an der beeindruckenden Britta Hammelstein liegt, die diese schwierige, von jeder Menge potenzieller Pathos-Näpfe gesäumte Titelrolle völlig unsentimental und mit einer immensen Kraft spielt. Ein verheißungsvoller Start für die vom Theater Freiburg zum Gorki-Ensemble gestoßene 27-jährige Schauspielerin.

Wieder am 16. und 28.10., 20 Uhr.

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