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Kultur: Anatevka trifft Malewitsch

Marc Chagall in neuem Licht: eine überraschende Retrospektive in Baden-Baden

Chagall ist nicht gerade der Künstler, von dem man noch Überraschungen erwartet. Man denkt an den Postkarten-Chagall der späten, französischen Jahre, millionenfach reproduziert, ein Publikumsliebling. Auch in dem kleinen, von Stararchitekt Richard Meier erbauten Frieder-Burda-Museum in Baden-Baden dürfte das Spätwerk verantwortlich sein für den Riesenerfolg. Das Haus musste, erstmals seit seiner Eröffnung im Oktober 2004, zeitweilig sogar wegen zu großen Andrangs geschlossen werden – mehr als 40 000 Besucher haben die Ausstellung in den ersten drei Wochen gesehen. Und da hängen sie, in der großen Halle im Erdgeschoss, die nachtblauen, feuerroten, grasgrünen Bilder. Blumensträuße schweben über sich hinduckenden Dörfern, russische Folklore gemischt mit biblischen Szenen, ein Traum von Liebe, Harmonie und Glück. Prachtvolle Bilder – leider ziemlicher Kitsch.

Und doch überrascht, ja begeistert die Chagall-Ausstellung in Baden-Baden, für die der Hausherr Frieder Burda gemeinsam mit dem Kurator und Chagall-Erbwalter Jean-Louis Prat über hundert Hauptwerke aus allen Teilen der Welt aufgeboten hat: viele Leihgaben der Familie Chagall, viel auch von befreundeten Sammlern und überraschend viel aus russischen Museen, wo ein Großteil des Frühwerks hängt. Diese, die frühen russischen Bilder aus der Zeit von 1914 bis 1922, sind die eigentliche Sensation der Ausstellung. Nicht nur, dass man hier etliches sieht, was noch frisch und unverbraucht, sich erst später in unendlicher Wiederholung abgenutzt hat. Auf dem Bild „Über der Straße“ aus der Tretjakow-Galerie in Moskau etwa ein Liebespaar, das über einer russischen Kleinstadt schwebt, die Körper leicht kubistisch verfremdet, er hält sie mit zarter Hand, und unter ihnen, am Straßenzaun, hockt ein kleiner Mann und verrichtet sein Geschäft, eine grüne Ziege weidet einsam auf der Straße. Beim meisterhaften „Spaziergang“ von 1917 aus dem Russischen Museum in St. Petersburg hält der Künstler seine fliegende Frau gerade noch an einer Hand. Fast gleichzeitig, 1915, malt er ein „Fenster auf dem Land“, noch ganz naturalistisch, draußen das Grün mit hellen Birkenstämmen, drinnen im Dunkeln ein Paar, das sinnend aus dem Fenster blickt. Russische Sommerfreuden, immer wieder Chagalls Geburtsstadt Witebsk mit ihrer Zwiebelturm-Kathedrale, ein leuchtend blaues Holzhaus davor und eine junge Frau, Chagalls Ehefrau Bella.

Die Motive sind unverkennbar russisch, die Formen jedoch modern. Man begreift sofort, warum Chagall schon in seiner Lehrzeit 1911 bis 1913 die Pariser Malerkollegen fasziniert hat und von ihnen fasziniert war. Sieht, wie der junge Künstler experimentiert, hier ein kubistisch verfremdeter Frauenakt, der an Picasso und Braque erinnert, dort fließende, weiche Linien, die den Kontakt zu Matisse spüren lassen. Suprematismus ist in diesen Bildern zu spüren, und Surrealismus sowieso, dazu, als Besonderheit, russische und jiddische Folklore, die Feier des einfachen, bäuerlichen Lebens – Großstadtbilder, wie sie die deutschen Expressionisten malten, sucht man vergebens, auch aus der Berliner und der Pariser Zeit. Ein Suchender, ein Experimentierender ist Chagall und gleichzeitig ein bewunderter, gefragter Exot, ein Heimatmaler. Farbwahl, Motivik, ein liebenswürdig verschrobener Humor bleiben zeitlebens so unverkennbar, dass man die meisten seiner Werke sofort zuordnen kann. Er hat alle fremden Einflüsse aufs Schönste amalgamiert.

1914 kehrt Chagall nach Russland zurück, wird durch den Kriegsausbruch dort festgehalten, heiratet, wird Vater, bleibt bis 1922. Und alles, was er aus Paris und Berlin mitgenommen und in Witebsk weiterentwickelt hat, kulminiert in den meisterhaften Wandbildern für das Jüdische Kammertheater in Moskau, die, normalerweise in der Tretjakow-Galerie in Moskau, nun vollständig in Baden-Baden zu sehen sind. Die sieben Tempera-auf-Leinwand-Bilder, zwei monumentale Querformate, vier Hochformate und ein vertikaler Fries, sind die Sensation der Ausstellung: Chagalls letzte große Arbeiten, bevor er 1922 Russland verlässt. Die wenigsten westeuropäischen Besucher werden sie bisher im Original gesehen haben, auch in Russland, wo Chagall lange als „französischer Künstler“ totgeschwiegen wurde, waren die Bilder jahrzehntelang nicht zu sehen. Allein dieses Ensemble ist die Reise nach Baden-Baden wert. Besonders im Hauptteil, der „Einführung in das Jüdische Theater“, kommt alles zusammen, was Chagall als Künstler ausmacht: ein fast groteskes Theaterleben, Gaukler und Musikanten, in wildem Tanz vereint, Kuh und Ziege dürfen nicht fehlen, und das Ganze ist eingebunden in ein formales Gerüst, zarte, farbige Diagonalen, die wie Streifen eines Regenbogens die Szene gliedern, an den Rändern die Zuschauer, darunter der Maler selbst mit seiner Familie. Anatevka trifft in diesem Bild Malewitsch.

Flankiert wird das Bild von vier Hochformaten, die Literatur, Theater, Tanz und Musik zeigen: ein Rabbi, ein Schriftgelehrter, eine Heiratsvermittlerin und ein Straßenmusikant. Genrebilder, gewiss, dem Auftrag geschuldete Schtetl-Folklore, aber gleichzeitig Chagalls Schöpfungsbekenntnis: „Wenn ich kein Jude wäre, könnte ich kein Künstler sein“, hat er einmal gesagt. Dass sich Tradition und avantgardistische Kunst keineswegs ausschließen, sondern im Gegenteil aufs Schönste verbinden, ist die Erkenntnis, die man aus Baden-Baden mitnimmt. Danach sieht man auch das Spätwerk wenn nicht lieber, so doch milder.

Baden-Baden, Museum Frieder Burda, bis 29. Oktober. Katalog bei Hatje Cantz, auch im Buchhandel 25 €.

Christina Tilmann

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