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Heller

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André Heller: Mit Zuckerguss und Peitsche

Portrait des Künstlers als Internatszögling: André Hellers zauberhafte Erzählung von Kindheit und Vatermord.

Zuerst stirbt der Papst, il Papa, wie die Italiener sagen. Bald danach trifft es auch den leiblichen Herrn Papa. Das Buch beginnt mit dem 9. Oktober 1958, dem Tag, an dem Pius XII. in Rom das Zeitliche segnet, aber das ist für André Heller nur das Vorspiel zum eigenen Vatertod. Um nicht gleich zu sagen: zum Vatermord. Und zur zweiten Selbstgeburt.

André Heller, der in Wien, Marokko, am Gardasee und in den Galaxien seiner Fantasien schwebende Sänger, Sammler und Schreiber, Impresario und Feuerwerker, Realutopist und Museums-Zirkus-Gärten-Gründer, der universale Heller hat die Memoiren seiner frühen Jugend geschrieben. Das Buch „Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein“ oszilliert zwischen autobiografischer Novelle und romanhafter Zeitgeschichte. Dabei hat die Einbildungskraft, schreibt Heller im Vorspruch, schon mal die „Oberhand“ über das allzu Faktische. Das freilich gilt als Mischung aus Dichtung und Wahrheit für alle biografische Literatur.

Als jener Pius stirbt, der 1939 kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zum Papst wurde und dessen Verhältnis zu Hitler und zur Judenverfolgung nicht nur Rolf Hochhuth im „Stellvertreter“ Anlass zu heftigen Zweifeln bot, da ist der zwölfjährige Paul Silberstein (alias André Heller) Schüler in einem von kalter Förmlichkeit bis hin zur Demütigung geprägten Wiener Jesuitenkolleg. Ohne den Heiligen Vater, erklärt der Generalpräfekt, seien sie nun allesamt Waise. In der hinreißend leicht, mit haarfeiner Ironie erzählten Ouvertüre wundert sich Paul hierauf, dass jener marmorgleiche Oberhirte überhaupt organisch dahinscheiden konnte: war er doch der Nachfolge-Fels, auf den Petrus seine Kirche baute. „Rätselhaft blieb, wieso Felsen sterben können und warum ich deshalb jetzt ein Waisenkind sein sollte.“

Dieses eben noch kindliche Erstaunen wird Paul indes bald ausgetrieben durch die im katholischen Internat erzwungene Theatralik der Trauer. Der junge Icherzähler träumt sich als Feuerfischer in vulkanische Lava, während drinnen und draußen die Kälte wächst. Alle sollen das Gesicht wahren. Bis diese ganze Welt für das Kind in Scherben fällt.

Ein Pater, der den Zögling spätnachts einmal auf die Stirn küsst und dessen streichelnde Finger angenehm verboten nach Tabak duften, wird als pädophil enttarnt und mit Skandal von der Schule geschasst. Und genau einen Monat nach Pius’ Tod, am 9. November 1958, hat Paul die Vision, dass er statt über die „Wäschewiese“ des Internats auf der durchsichtig gewordenen Erdkruste gehe und in einer gläsernen Unterwelt sich ihm immer gleißendere exotische Dschungel eröffnen. „Von da an war ich verwandelt.“ Nun müsse er sich zu seiner „Merkwürdigkeit“ bekennen und „die Verantwortung für dieses Kind, das ich war“ selber übernehmen.

Natürlich ist der 9. November ein steiler Fingerzeig. Das ganze klingt recht pathetisch, doch Heller hat sich zur Stilisierung und Inszenierung seiner Person von jeher bekannt. Seine Begabung ist, hierbei den Abgrundrausch und den Fallhöhenschwindel nicht zu unterschlagen: „Füge dich nicht, wenn du dir lieb bist.“ Das ist mindestens ehrlich, weil ein Bekenntnis zur Eigenliebe, ohne die ein Kind schwerlich einen Liebreiz für andere entwickelt oder gar Wut und Mut genug hat, um statt ein Musterschüler und Bürgermuster ein freier Künstler zu werden.

Davor muss dem katholischen Halbwaisen allerdings noch der getaufte Judenvater sterben, der seinen Sohn am liebsten zum Kardinal gemacht, nein: niedergezwungen hätte. Roman Silberstein hieß im wirklichem Leben Stephan Heller. Im Buch und wohl auch in der Realbiografie ist dieser Vater ein steinharter, geschäftlich (bis zur überraschenden Testamentseröffnung) steinreicher, aus dem Habsburger Osten eingewanderter Wiener Süßwarenfabrikant und Parvenü. Gut einen Monat nach dem Papst stirbt also der gute Katholik Silberstein, der am 9. November vor 20 Jahren noch auf den Knien den Bürgersteig mit der Zahnpastabürste schrubben musste. Vor den Nazis geflohen, von Pauls „arischer“ Mutter zu deren Schutz geschieden, hat er nach 1945 seine Frau ein zweites Mal geheiratet, noch den Sohn Paul gezeugt und von nun an selber als Herrenmensch die Familie und wiedererlangte Firma tyrannisiert. Mit Zuckerguss und Peitsche.

Paul wird nach dem Vatertod von seiner Mutter aus dem Internat zurück ins Elternhaus geholt. Und in der nunmehr triumphalen Trauerzeit, im Kreise sarkastisch weltläufiger Onkel aus Übersee und angesichts des Pomps der „Funeberer“, wie das so schön wienerisch heißt, beginnt Paul als Ablösung die Abrechnung mit dem gehassten, erst als Toter wieder menschgewordenen Erzeuger. Das liest sich als elegante Vatermörderprosa wie ein Apercu zu Freud & Kafka. Einerseits.

Es ist aber auch ein Stück katholisch-österreichisch-jüdischer, vom Klein- ins Großbürgerliche umgeschlagene Sittengeschichte. In ihr wirkt der Bergamottegeruch des verblichenen Übervaters noch immer beklemmend nach, und die Erzählung lässt manchmal auch betörend anklingen, was mit jenem Tod untergeht als Hauch einer nun ganz versunkenen, zwischen Schmock, Charme und Schauder tanzenden, taumelnden Welt.

In Hellers stilvoller Schilderung ist nur das zart Gestelzte bisweilen eine stilistische Gefährdung. Die Sandale mit Kothurn. Weil ja alles vom Höchsten sein muss. Der Vater war, bevor Hitler nach Wien kam, vertraut mit Mussolini, im Krieg verkehrte er mit dem Exilgeneral de Gaulle, und als der kleine (erstaunlich altkluge) Paul mal das Telefon abnimmt, ist das Vorzimmer von Churchill am Apparat. Die Silbersteinzuckerl liebte schon Kaiser Franz Joseph, das Marmorbad im Hause hat der große Adolf Loos entworfen, die beiden Wellensittiche heißen Tristan und Isolde, und der flotte Onkel aus Montevideo empfiehlt dem Zwölfjährigen beim Onanieren immer „nur an die schönsten Frauen der Welt zu denken“. Darunter geht’s eben nie für das „Jakobsleiterwolkenkind“, wie Heller sein junges Abbild nennt.

Über ein solch „merkwürdiges Kind“ und die darin eingefasste kostbare eigene Person auch mal zu lachen, ist Hellers Stärke nicht. Aber: Dieses Buch der entschiedenen Selbsterfindung hat immer wieder eindrucksvolle, morbid melancholische oder wehmütig schmerzende Passagen. Einmal enthüllt Heller den „seelischen Knochenbrecher“ von Vater in der Wiederbegegnung mit zwei alten Wiener Nazis, einem Selcher- und Metzgerspaar, auch als Mann einer sadistischen, grausig ordinären Selbstjustiz. Und glänzend beschreibt Heller den tieferen Hintergrund der Vaterwelt: die Gemütsversteinerung, die Seelenverfinsterung der als entwurzelte galizische Dörfler und Kleinhändler in der Großstadt zu Magnaten und überangepassten Bürgern aufgestiegenen, assimilierten, doch nie wirklich akzeptierten Christenjuden.

Pauls Sehnsucht aber nach den anderen Kindern, nach den „Gassenfratzen“, mit denen zu spielen dem Jesuitenzögling verwehrt wurde, lässt ebenso wie eine am Krankheitsunglück des Mädchens scheiternde erste Liebe ahnen, dass in der Geschichte, wie einer sich von Papst und Papa befreit, viel mehr steckt als die schiere Ich-Behauptung. Es ist Hellers education sentimentale, der Blick auch durch den eigenen Spiegel ins Weitere, gar Herzliche.

André Heller: Wie ich lernte, bei mir Kind zu sein. Eine Erzählung. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2008. 138 Seiten, 16, 90 €. Am 18. 9. stellt Heller das Buch im BE im Gespräch mit Claus Peymann vor.

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