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Anne Franks Helferin: Die Retterin der Tagebücher

Zum Tod von Miep Gies: Sie versorgte die untergetauchte Familie Frank und rettete das Tagebuch. Die gebürtige Wienerin war ein Vorbild an Courage und Redlichkeit.

Was wir später als besonderen Moment der Geschichte einordnen, ist oft zuerst nur eine Episode. So wie diese hier aus dem von den Deutschen besetzten Amsterdam des Sommers 1942. Der jüdische Unternehmer Otto Frank bittet seine nichtjüdische Angestellte Miep Gies und deren Mann Jan Gies, der Franks Firma wegen des auch in den Niederlanden zunehmenden Naziterrors bereits seinen Namen geliehen hat, um Hilfe. Frank erzählt, dass seine Frau und er mit den beiden Mädchen Anne und Margot untertauchen wollten, um der Deportation zu entgehen – und zwar im Hintergebäude der Firma an der Prinsengracht. „Er holte tief Luft und fragte: ,Sind Sie bereit, Miep, die Verantwortung zu übernehmen und uns zu versorgen?’“ Gies antwortete: „Selbstverständlich“. Viele Jahre später resümiert sie: „Ein oder zweimal im Leben gibt es einen Blickwechsel zwischen zwei Menschen, der sich mit Worten nicht beschreiben lässt. Einen solchen Blick tauschten wir.“ So steht es in „Meine Zeit mit Anne Frank“, ihren Erinnerungen, und so und nicht anders wird es gewesen sein, denn redlicher als Gies gewesen ist, kann ein Mensch in Extremsituationen und im Leben überhaupt nicht handeln.

Dass Anne Frank auf dem Dachboden der Prinsengracht 263 schrieb, wusste Gies, nachdem sie einmal unerwartet ins Zimmer getreten war. Als die Franks am 4. August 1944 entdeckt wurden, sammelte die Freundin die persönlichen Sachen ein, darunter das Tagebuch: Millionen Menschen in der ganzen Welt haben es gelesen, nachdem der Vater, der seine Tochter überlebte, es veröffentlichte. Ohne Miep Gies wüssten wir nichts von Anne Frank – außer dem Namen und einer Nummer. Dafür ist sie vielfach ausgezeichnet worden: zusammen mit ihrem Mann Jan als Gerechte unter den Völkern, 1994 mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse und schließlich, spät genug, 2009, mit dem Großen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich.

Da nämlich war Miep Gies, die als Hermine Santrouschitz 1909 das Licht der Welt erblickt hat, ursprünglich einmal hergekommen: ein Wiener Arbeiterkind, dem die Eltern bald nicht mehr das Nötigste mit auf den Weg geben konnten. Also schickte man die 11 Jahre alte Hermine mit einem Pappkarton an einer Kordel um den Hals nach Leiden in den Niederlanden, eine Unterernährte ging auf Auslandsurlaub. Rasch lernte sie die Sprache, ohne Weiteres fand sie später die Anstellung bei Franks – und dann kam Jan. Hermine Santrouschitz, schnell praktisch Miep geheißen, hatte in den Niederlanden ihr kleines Glück gemacht, bevor die Deutschen als großes Unglück über das Land kamen, und sie war entschlossen, etwas davon weiterzugeben. Gies’ mit viel Lieb und Akribie geführte Internetseite (www.miepgies.nl) nennt am Ende eines Katalogs, der hundert oft gestellte Fragen an sie versammelt, drei Ratschläge, die sich verkürzt so zusammenfassen lassen: Unterscheidet zwischen Gut und Böse! Schert nicht alle über einen Kamm! Tut was!

Auseinandersetzungen scheute sie nicht. Als ein Neonazi Ende der achtziger Jahre behauptete, die Tagebücher seien eine Fälschung, berichtete die damals achtzigjährige Zeitzeugin vor dem Hamburger Landgericht, wie sie die Kassenbücher ins Hinterhaus gebracht hatte, deren Papier Anne Frank für ihre Notizen brauchte. Miep Gies ist am Montagabend im niederländischen Fiesland hundertjährig gestorben. Sie hinterlässt einen Sohn und drei Enkel. Wer eine Ahnung von Courage braucht – Miep Gies war beispielhaft. Mirko Weber

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