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Enkeltochter eines „glühenden Nazis“. Die 1964 in Offenbach geborene und in Paris lebende Schriftstellerin Anne Weber.

© Hermance Triay/S. Fischer Verlag

Anne Webers neues Buch: Die Zeit hat viele Fenster

Literarisches Lehrstück: Anne Weber setzt sich in "Ahnen" mit Leben und Werk ihres Urgroßvaters Florens Christian Rang auseinander - und erkundet ihre deutschen Wurzeln.

Gefragt nach ihrem Verhältnis zu Deutschland, bekannte Anne Weber vor Jahren einmal: „Ich stehe ein bisschen abseits und schaue immer mal wieder rüber.“ Letzteres deshalb, weil sie seit ihrem 18. Lebensjahr in Paris lebt und längst auf Französisch denkt und schreibt, wie sie gern betont. Als Weber 2010 mit ihrem Roman „Luft und Liebe“ dem Geheimtippstatus entwuchs, rühmte die Kritik ihre Werke als nicht nur ebenso klug wie experimentierfreudig, sondern dass diese „ohne deutsche Geschichtsbeschwernis“ auskämen.

Diese Beschwernis erwartet den Leser allerdings nun in Webers neuem Buch „Ahnen“. Geht es darin doch auch um die „Bürde“, Deutsche zu sein – eine latente Grundparanoia der Autorin, Jahrgang 1964, etwa bei Gesprächen mit jüdischen Freunden in Paris, als Deutsche letztlich doch als „Tochter eines Mörders“ gesehen zu werden. Den Anlass für ihre poetisch-autobiografische Meditation über Herkunft und Identität bildet die Auseinandersetzung mit Leben und Werk ihres Urgroßvaters Florens Christian Rang.

Florens Christian Rang war ein Freund von Walter Benjamin

Dieser Vorfahre, im Buch „Sanderling“ genannt, starb zwar bereits 1924. Einfacher wird die Annäherung an den heute vergessenen ketzerischen Theologen und Kulturphilosophen deshalb aber nicht, wie sich zeigt. Denn auch wenn Rang/Sanderling, nach einem Wort seines Freundes Walter Benjamin, der „tiefste Kritiker des Deutschtums seit Nietzsche“ war, so wurde doch aus seinem Sohn, dem Großvater der Autorin, ein „glühender Nazi“. „Wie hat es geschehen können, dass aus dem Sohn eines Sanderling, eines Mannes also, der von Juden umgeben war und in ihnen seine, des Christen ältere Brüder sah, ein Nazi wurde?“, fragt Anne Weber und sieht darin ein Problem, das weit über die eigene Familie reicht. Doch wird ihr Biografieprojekt bald infrage gestellt, und zwar ausgerechnet von der Person, von der sie sich Antworten auf ihre Fragen erhofft: Ihr greiser Vater unterstellt ihr, sie wolle sich mit ihrem Buch ja nur „in die Familie einschreiben“. In jene Familie, die so lange nichts von ihr, der unehelichen Tochter, wissen wollte. Und nun also ein Buch ausgerechnet über ihren Urgroßvater? „Was denn bei alldem überhaupt herauskommen soll, will er wissen“.

Die Antwort: Etwas literarisch Eindrucksvolles und Berührendes, das wohl erst die illegitime Nachfahrin zustande bringen konnte. Denn schon Webers Vater, der emeritierte Pädagogikprofessor Adalbert Rang, wollte den Vorfahren vor dem Vergessen bewahren. Heraus kam aber nur ein Porträt 1959 für die „Neue Rundschau“; 2008 übergab er dann den Nachlass des schreibenden Ahnen an das Berliner Walter-Benjamin-Archiv.

Wer aber war denn nun dieser Florens Christian Rang? „Viele Eigenschaftsworte würden auf ihn passen“, konstatiert Anne Weber: „der Suchende, der Wahnsinnige, der Haltlose, der Radikale, der Unbändige, der Stürmische.“ 1864 in Kassel geboren, wurde Rang zunächst der Familientradition gemäß Verwaltungsbeamter, während er privat das Leben eines Bohemiens führte.

Weber fragt auch: Wie ist biografisches Schreiben überhaupt möglich?

Es folgten: eine überraschende Wende zu Gott, das Studium der protestantischen Theologie, seelisch schwere Jahre als Pastor im damals preußischen Posen, eine folgenreiche Nietzsche-Lektüre, schließlich eine radikale „Abrechnung“ mit dem Christentum. Den Ausbruch des Ersten Weltkriegs begrüßte Rang so begeistert wie die meisten Intellektuellen der Zeit, kurz zuvor wollte er noch an der Seite Martin Bubers, Gustav Landauers und Walther Rathenaus eine utopisch-geistesaristokratische Gemeinschaft mitbegründen, heute bekannt als „Forte-Kreis“. Nach dem Krieg war Rang mit Hofmannsthal, Gershom Scholem und Walter Benjamin befreundet, beschäftigte sich mit den Ursprüngen des Karnevals und rief dazu auf, sich mit den Kriegsgegnern auszusöhnen, indem die Deutschen freiwillig Wiedergutmachung leisteten.

Das alles erfährt man in Webers Buch, dem „Journal einer Erkundungsreise“, nur bruchstückhaft nach vielen Um- und Seitenwegen. Mal vor-, mal rückwärts bewegt sich ihre „Reise in die Fremde, zu meinen Vorfahren hin“, stets begleitet von Selbstzweifeln und Reflexionen, etwa über Scham und Schweigen in deutschen Familien. Begegnungen mit Freunden in Frankreich sind ebenso Etappen ihrer Erkundung wie der verstörende Leserbrief einer Psychiatrieinsassin oder Lektüren, darunter Werke von H. G. Adler, Susan Sontag oder Ernst von Salomon. Und natürlich auch Reisen, etwa zur psychiatrischen Klinik Hadamar, in der die Nazis tausende Patienten ermordeten. Mit einer Biografie im herkömmlichen Sinn hat dieses essayistische Prosawerk daher wenig zu tun, dafür viel mit der Frage: Wie ist biografisches Schreiben überhaupt möglich?

Zumal für eine Nachgeborene mit skrupulösem Sprachbewusstsein: „Wir sehen die Worte davonschwimmen. Keines von ihnen ist mehr einzuholen; kein Satz kann mehr so verstanden werden, wie er gemeint war, und nur so (…) man müsste die Zeit unvergangen machen können.“ Die Zeit zwischen ihr und ihrem Urgroßvater aber ist da, mal als eine „fensterlose Wand“, mal als ein „Riesengebirge; angehäuft aus Toten“: dem Holocaust als „Binde- und Trennungsglied“.

Und mal als eine Person, die zwar über Kleist, Kafka und Hesse schrieb – aber über deren braune Gesinnung doch kein Zweifel bestehen kann: ihr Großvater, der in der NS-Zeit als „ehrenamtlicher Kulturberichterstatter“ für den Sicherheitsdienst der SS tätig war. Lässt sich die „Zeitmauer“ überwinden, führt ein Pfad vom Urgroßvater zum Großvater? Vielleicht bis zu ihr? In Florens Christian Rangs Erinnerungen an seine Jahre als Pastor in Posen findet Weber eine Stelle, die ihr den Ahnen abgrundtief fremd werden lässt – die alle Befürchtungen zu bestätigen scheint. Als Rang irgendwann um 1900 eine „Irren- und Idiotenanstalt“ besucht, zieht er den Assistenzarzt zur Seite und fragt ihn: „Warum vergiften Sie diese Menschen nicht?“ Der Satz wird die Autorin verfolgen, ins hessische Hadamar ebenso wie später nach Polen. Wie aber Anne Weber den sich sogleich aufdrängenden Schlüssen bis zum Schluss misstraut, wie sie vorschnelle Urteile mit immer neuen Zweifeln und Fragen begegnet, das macht diese großartige Begegnung der Lebenden mit den Toten zu einem literarischen Lehrstück.

Anne Weber: Ahnen. Ein Zeitreisetagebuch. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 268 Seiten, 19, 99 €.

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