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Kultur: Annibel Cunoldis "Fundspiegel" im Mikrobiologie-Institut der Charite

Die Türen des Instituts für Mikrobiologie und Hygiene in der Dorotheenstraße funktionieren wie eine Zeitschleuse. Kaum ist die hohe Holztür wieder geschlossen, sind ein paar Marmorstufen erklommen, ist man in einer anderen Zeitzone angelangt.

Die Türen des Instituts für Mikrobiologie und Hygiene in der Dorotheenstraße funktionieren wie eine Zeitschleuse. Kaum ist die hohe Holztür wieder geschlossen, sind ein paar Marmorstufen erklommen, ist man in einer anderen Zeitzone angelangt. Hier krallt sich das 19. Jahrhundert in der Patina des Gemäuers fest. Zwar gibt es Einsprengsel der Jetzt-Zeit, das Gaslicht im Flur ist beispielsweise mit elektrischen Birnen bestückt, aber die Vergangenheit wirkt stärker. Sie hat hier eines ihrer letzten Refugien, während draußen vor der Türe am neuen Berlin gebaut wird. Schon werkelt man auch an der Fassade des von Emile Dubois-Reymond konzipierten und von Paul Spieker 1877 vollendeten Gebäudes. Bald sind auch die letzten Einschusslöcher verschwunden, und nichts erinnert mehr an die Bombentreffer, denen der zur Spree hin orientierten Flügel des Backsteinkomplexes zum Opfer fiel und an dessen Stelle sich heute das Hauptstadtstudio der ARD befindet.

Der zentral gelegene, große Hörsaal des Hygiene-Instituts mit 203 Plätzen heißt Robert-Koch-Saal. Der Mediziner hatte hier 1882 seine Entdeckung des Tuberkelbazillus vorgetragen. Schon draußen vor dem Saal, vis-à-vis vom Robert-Koch-Museum auf der anderen Seite des Flures, wird man mit in Gläsern eingemachten tuberkulösen Lungenflügeln darauf eingestimmt. Der Saal selbst ist ein quadratischer, mit steil ansteigenden Holzbänken möblierter Raum. Auch die Wände sind holzgetäfelt. Unten im Saal, rechts und links des Demonstrationstisches, stehen zwei Büsten deutscher Bakteriologen.

Der Raum wirkt trotz seiner Größe angenehm, die Proportionen stimmen. Ein klassizistischer Geist herrscht hier, dem die wilhelminischen Protzgeste aus Stein und Stuck noch fremd ist. Über der oben umlaufenden Galerie mit ihrem säulengestützen Bogengang ist in der Decke ein großes Oberlicht eingelassen, derzeit einzige Lichtquelle des Raumes. Genau an dieser Stelle hat Annibel Cunoldi ihren künstlerischen Eingriff vornommen und zwischen die einzelnen Streben der gläsernen Decke Buchstaben angebracht. Wie beim Kreuzworträtsel liest man Wörter wie PSYCHE, TIEF, FUND, ATEM, REAKTIO, IDENTITÄT. Die Begriffe sind dem Ort nicht ganz fremd. Sie machen aus dem Hörsaal einen Resonanzboden, einen Hallraum, in dem es von Geschichte, Erinnerung und Vorstellung tönt. All die schnell verwehten Worte, die hier die Vorstellung von Medizin und Wissenschaft prägten, Annibel Cunoldi hat sie festgehalten, hat sie sich kreuzen lassen und assoziativ miteinander verspannt. So wächst aus der PSYCHE die SPALTUNG, die kreuzt sich mit dem FUND, der in die IDENTITÄT übergeht: Es sind Sprachgitter, die Denkprozesse in Bewegung bringen sollen, wie die in Berlin lebende italienische Künstlerin erklärt.

Warum sollte dieser assoziative Fundus an Worten nicht über die Zeit der Ausstellung hinaus erhalten bleiben? Den Studierenden wird das Netzwerk der Worte vielleicht inspirieren können. Denn der Text erleuchtet den konkret-historischen Ort der Medizin zusätzlich mit den gedanklichen Verwicklungen, die über den Ort der Wissenschaft hinaus erwachsen. Die Installation macht die Wege und Verzweigungen, Spaltungen und Kreuzungen der Gedanken anschaulich. Unaufhörlich miteinander verwoben, kommen sie nie zu Ende, sondern werden immer nur durch das Gerüst der Institution begrenzt.Institut für Mikrobiologie und Hygiene, Dorotheenstraße 96, bis 14. August; Montag bis Freitag 14-19 Uhr, Sonnabend 11-14 Uhr.

Ronald Berg

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