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Und wie geht's uns heute? Die twitternde Kiefer in Britz bei Eberswalde.

© treewatch.net

Anthropozän: Mein Orakel, der Baum

Wenn Kiefern und Buchen twittern: "Die Dritte Natur" ist das erste deutschsprachige Periodikum über das Zeitalter des Anthropozän. Die Zeitschriftenkolumne.

Von Gregor Dotzauer

In den gut tausend Tweets, die sie seit Anfang Mai abgesetzt hat, lässt sich eine stille Verzweiflung nicht überhören. Die rundum verkabelte Kiefer, die aus dem Britzer Wald bei Eberswalde über ihre trockenheitsbedingten Durchmesserschwankungen klagt, beendet ihre Nachrichten immer öfter mit dem Hashtag „BurnOut“. Die Wissenschaftler des Braunschweiger Thünen-Instituts, einer Bundeseinrichtung zur Erforschung von ländlichen Räumen, Wald und Fischerei, die sich an dem europäischen Projekt treewatch.net beteiligt, haben natürlich etwas nachgeholfen, die Daten der Messgeräte in englische Sätze zu verwandeln. Aber so, wie die Kiefer unter dem Namen TreeWatchBritz unter anderem einer holländischen Pappel und einer belgischen Buche folgt, wird hier der überkommene Dualismus von Natur und Kultur auf eine Weise aufgehoben, die zugleich an ein archaisches Einfühlungsvermögen anknüpft.

„Die Subjektwerdung der Bäume“, schreibt die Potsdamer Medienökologin Birgit Schneider in einem Aufsatz über neue Formen der Klimakrisenwahrnehmung, „kann mit der langen Geschichte der Mythen, Sagen und Märchen in Verbindung gebracht werden, bei denen sprechende und magische Bäume oftmals im Zentrum standen.“ Ihr Text ist auch deshalb ein Herzstück der ersten Ausgabe von „Dritte Natur“ (180 Seiten, 20 €), weil er dem Modebegriff des Nature Writing fast exemplarisch die nötige, gleichermaßen natur- wie kulturwissenschaftliche Kontur gibt. Der Berliner Mentalitätshistoriker Hartmut Böhme definiert das durch den Titel vorgegebene Programm in seinem Eingangsessay als Aufgabe, die das globale Geoengineering in seinem ganzen Dilemma aus Unvermeidlichkeit und möglicher Selbstzerstörung beschreibt. Kultur, so Böhme, „ist zu verstehen als technomorphe Kultur, in deren Rahmen auch ,Natur‘ zu einem Projekt wird: die ,Natur‘, in der wir leben und die wir den Nachgeborenen hinterlassen, ist eine zweite, dritte, in jedem Fall: eine anthropogene Natur.“ Die „Mega-Erzählung Anthropozän“ erscheint ihm mit Helmuth Plessner als grandiose „Selbstentsicherung“ des Menschen, dessen Handeln unter dem Gesetz eines „kategorischen Konjunktivs“ steht.

Der Gewährsmann heißt Bruno Latour

„Dritte Natur“ ist das zweimal jährlich erscheinende Beiboot zu einer ganzen Reihe von Büchern über das Anthropozän bei Matthes & Seitz: eine Gelegenheit zur Autorenpflege inklusive Zweitverwertung, die in ihren unterschiedlichen Formen und Tönen, vom Gedicht bis zur Collagekunst von Heidi Sill, auch aktuelle Diskurspflege leistet. Zugleich handelt es sich um das erste deutschsprachige Periodikum, das sich ausschließlich diesem Phänomen widmet. Daneben existiert nur die ungleich akademischere, seit 2013 auf Englisch erscheinende Vierteljahresschrift „Anthropocene“ bei den Beutelschneidern des Wissenschaftsimperiums Elsevier.

Nicht von ungefähr ist Steffen Richter, der Herausgeber der „Dritten Natur“, der gelegentlich auch für diese Zeitung schreibt, von Haus aus Literaturwissenschaftler – mit besonderen Fühlern in jene „metamorphische Zone“, die sein Gewährsmann, der Anthropologe Bruno Latour, seit Jahren erkundet. Der Untertitel „Technik Kapital Umwelt“ verweist indes auch auf eine politische Dimension, die sich im weitesten Sinn als links versteht. Dafür steht etwa Christian Schwägerls Essay über die vulkanischen Ursprünge der Glasfaserproduktion, die er in „Der Erdgeist und das Internet“ untersucht.

Das mitreißendste Stück des Hefts sind die Erinnerungen der amerikanischen Ökofeministin Val Plumwood an die traumatische Attacke eines Krokodils im australischen Kakadu National Park. „Die Fähigkeit eines Ökosystems, große Raubtiere zu versorgen, ist ein Gradmesser für dessen ökologische Unversehrtheit“, schreibt sie. „Wird ihnen erlaubt, frei zu leben, dann verweist das auf unsere Bereitschaft, uns selbst auf eine von Wechselseitigkeit geprägte ökologische Weise zu begreifen, als Teil der Nahrungskette, nicht nur essend, sondern auch gefressen.“ Das lässt sich auch als Gleichnis fürs große Ganze lesen.

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