zum Hauptinhalt
Auf den Inseln im Mississippi-Delta wappnet man sich beim Hausbau gegen die Flut.

© Sarrah Danziger/HKW

Anthropozänprojekt am Mississippi: Ein neues Zeitalter zeigt sich mit aller Gewalt

Angekommen im Anthropozän: Am Mississippi forschen Berliner Institutionen nach der Zukunft des Planeten. Eine Reise in den Süden der USA.

Von Andreas Austilat

Geneva Lebeouf schaut auf das Meer. Kalt und grau liegt es kaum 100 Meter entfernt hinter dem Deich. Die indigene 56-Jährige vom Stamm der Pointeau-Chien, einem Volk der Houma, erzählt, dass dort, wo jetzt das Wasser ist, vor 20 Jahren noch ihr Vieh weidete. Sogar Zuckerrohr hätten sie angebaut.

Aber ihre Halbinsel im Mississippi-Delta ist kleiner geworden. Und es gibt hier kein Haus, das nicht auf Stelzen steht. Denn immer öfter kommt die See noch näher.

So mussten sich die Pointe-au-Chien der Frage stellen, ob sie ihr Land räumen sollen. Sie haben es abgelehnt. Denn es wäre das Ende ihrer Gemeinschaft. Schon zählen manche den kleinen Stamm zu den ersten Verlierern eines neuen Erdzeitalters: des Anthropozäns, in dem nicht die Natur den Planeten gestaltet, sondern der Mensch.

Anthropozän, das bedeutet mehr als nur Klimawandel. Erde, Luft, Wasser, kein Lebensraum, keine Spezies, die nicht betroffen wären in einer Welt, in der in Jahrmillionen entstandene Rohstoffe binnen weniger hundert Jahre verbraucht wurden und 100 000 Hauskatzen auf vielleicht einen Tiger kommen, wie der Berliner Geobiologe Reinhold Leinfelder einmal erklärte.

Anthropozän bedeutet mehr als nur Klimawandel

Ihre prekäre Lage brachte die Pointe-au-Chien 125 Straßenkilometer weiter nördlich in New Orleans auf die Tagesordnung einer einwöchigen Veranstaltungsreihe, die sich mit dieser ominösen neuen Ära beschäftigte.

140 Teilnehmer reisten dazu im November aus aller Welt an, Geologen, Biologen, Soziologen, Künstler und Aktivisten wie Geneva Lebeouf. Die Initiatoren aber kamen von zwei Berliner Institutionen: dem Haus der Kulturen der Welt und dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte.

Und die Woche war nur das Finale des drei Monate währenden Anthropozänprojektes am Mississippi.

„Ist das Anthropozän gerecht?“ Mit Fragen wie dieser konfrontierte das Haus der Kulturen der Welt, kurz HKW, bereits 2013 die Öffentlichkeit, vorangegangen war ein Jahr der Diskussion.

Nun kommt das Thema langsam auch in der Politik an, im Februar dieses Jahres ging Angela Merkel das Wort Anthropozän in ihrem Eingangsvortrag auf der Münchner Sicherheitskonferenz schon leicht über die Lippen als sie von den großen Herausforderungen der Zeit sprach.

Der Mensch schafft die Fossilien von morgen

Doch während Politik in Jahren denkt, stellt das Verständnis vom Anthropozän als erdgeschichtliches Zeitalter einen Epochenwechsel dar: die Erkenntnis, dass jetziges Handeln unumkehrbare Spuren hinterlässt und womöglich für Jahrtausende wirkt.

Der Mensch schafft heute die Fossilien von morgen, Glas, Beton, Flugasche, Plastik, die Knochen des von ihm gezüchteten Viehs.

Dringend nötig sei ein neues umfassendes Verständnis der Evolution, nur darin liege die Chance, die Herausforderungen zu bestehen, sagte Jürgen Renn, Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, zur Eröffnung in New Orleans.

Die Hypothese vom neuen Erdzeitalter geht auf Paul Crutzen zurück, Nobelpreisträger für Chemie, der sie im Jahr 2000 in Umlauf brachte. Doch um als erdgeschichtliche Epoche durchzugehen, braucht es einen geologischen Beweis. Der sei sicher wichtig, ergänzte Bernd Scherer, Intendant des HKW, aber jetzt sei mehr gefordert, als technisches Verständnis.

Es brauche interdisziplinäres Denken. Und weil es in dieser Welt kein Außen mehr gibt, keinen Rückzugsraum, sei natürlich auch die Kunst gefordert – in ihrer Vermittlerrolle, wenn es darum gehe, Unsichtbares sichtbar zu machen.

Am Mississippi wird das Anthropozän sichtbar

So sichtbar etwa wie die Billboards, die die Fotografin Jennifer Colton in St. Louis aufstellen ließ. Als Teil einer der verschiedenen Field Stations entlang des Stroms, die seit August von Wissenschaftlern und Studenten verschiedener Universitäten eingerichtet wurden.

Coltons großformatige Aufnahmen irritieren, denn die Hügel, die sie darauf zeigt, sind allesamt von Menschenhand geschaffen. Die einen vor 1000 Jahren zu rituellen Zwecken von inzwischen untergegangenen indigenen Völkern, die anderen sind notdürftig mit Erde bedeckte Müllberge der Gegenwart.

Der Ausflug zum Mississippi, so Scherers Erklärung, sollte nach all den Diskussionen der vergangenen Jahre an einen konkreten Ort führen, der den menschengemachten Wandel mit seiner ganzen Gewalt zeigt.

Die zentrale Lebensader der größten Industrienation ist ein Wasser-Highway mit mehr schiffbaren Kilometern als angeblich alle anderen Flüsse zusammen. Sein Name ist überall geläufig, zigfach beschrieben und besungen, von Herman Melville bis Led Zeppelin.

Man sucht nach Beweisen, die das neue Zeitalter belegen

Mindestens ebenso wichtig für den Ortswechsel dürfte ein anderer Grund gewesen sein: „Wunderbar Together“, wie das Bundesaußenministerium sein Jahr der deutsch-amerikanischen Freundschaft getauft hat. Das Anthropozän-Projekt sei einer der Leuchttürme unter den 2500 Veranstaltungen, die man unterstützt habe, versicherte ein Vertreter des Außenministeriums vor Ort.

Deutscher Kulturexport mitten ins Trump-Land, das ist wohl auch ein Versuch manch neue Delle im Verhältnis der beiden Staaten auszubügeln.

Eine Million Euro kostete das Mississippi-Projekt, die wurden vom Ministerium sowie den beiden Berliner Institutionen getragen. Das Geld reichte auch, Abgesandte der Anthropocene Working Group einzuladen, einem kaum 40 Köpfe zählenden Expertenzirkel, der nach jenem Beweis sucht, der den Beginn des Anthropozäns markiert.

Das Epochenverständnis der Geologen reicht Jahrmillionen zurück, Bestand hat darin nur, was sich als globale Veränderung geologisch nachweisen lässt.

Geochronologisch gesehen liegt die Gegenwart im Holozän, das vor rund 12000 Jahren mit dem Ende der Eiszeit begann – vor allem für Großsäuger wie die Mammuts eine schlechte Nachricht. Der Übergang läutete ihr Ende ein.

Den Beginn der Ära will man aus einem Bohrkern aus dem Eis Nordgrönlands herausgelesen haben, der ein deutliches Indiz für die Erwärmung vor 13 700 Jahren lieferte, die stabile klimatische Verhältnisse brachte.

Hat sich Plastik bereits in den Erdschichten abgelagert?

Doch es mehren sich die Zeichen, dass sich spätestens Anfang der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts erdgeschichtlich Bedeutsames zutrug, man wird also nicht tief bohren müssen. Gesucht wird nach dem neuen GSSP, jenem Grenzpunkt, an dem ein bestimmtes Fossil erstmals im Boden auftrat, und das Anthropos, dem Menschen zugeordnet werden kann.

Kandidaten gibt es viele, Plastik zum Beispiel, hoch gehandelt aber werden radioaktive Isotope. Gebohrt wird auch und gerade in Regionen, die als vergleichsweise unversehrt gelten dürfen.

Die wichtigste Botschaft in New Orleans war, man hofft bis 2021 den sogenannten Golden Spike vorlegen zu können, die Stunde Null des neuen Zeitalters.

Diese Erkenntnis würde der Menschheit bescheinigen, eine epochale Wirkung zu haben – und noch nicht den Beginn der Apokalypse markieren. Die Begleiterscheinungen sind freilich beunruhigend. Längst hat das Artensterben Dimensionen erreicht, die an die Umbrüche vergangener Perioden erinnert.

Die Idylle am Mississippi hat bald ein Ende

Jene Begleiterscheinungen standen denn auch im Mittelpunkt des Mississippi-Projektes, das im Norden des Landes begann, wo der mächtige Strom noch als Flüsschen startet. Dort machten sich Studenten im Kanu auf die mehr als 3000 Kilometer lange Reise.

Sie berichteten in New Orleans von klarem Grund und wildem Reis an den nahen Ufern. Doch die Idylle hatte bald ein Ende, Schleusen und Wehre zwingen den Mississippi in seine Bahn, die schließlich in Louisiana in die Cancer Alley führt, die Krebsallee.

Dieser Abschnitt zwischen Baton Rouge und New Orleans ist eines der wichtigsten Zentren der Petrochemischen Industrie in den USA und berüchtigt für eine überproportional hohe Krebsrate unter seinen Anwohnern.

Für die Mischung aus Romantik und Magie, für indianische Legenden vom Baum des Lebens ist darin ebenso wenig Platz, wie für Huckleberry Finn. Von der Küste bis Baton Rouge, 400 Kilometer landeinwärts also, ist der Mississippi für Hochseefrachter schiffbar, muss dafür ständig ausgebaggert und in seinem heutigen Bett gehalten werden.

Auch das ist ein Merkmal des Anthropozäns: Der Mensch verändert Landschaften, bewegt dabei mehr Sediment als die Natur. Sediment, das der Strom einst in den Feuchtgebieten des riesigen Deltas verteilte, es wird heute in den Golf mitgerissen.

Der Mensch bewegt mehr Sediment als die Natur

Die Folge ist ein ungeheurer Landverlust, jede Stunde geht angeblich eine Fläche von der Größe eines Fußballfeldes verloren. 5 000 Quadratkilometer sind es seit den 1930er Jahren, 10 000 weitere sollen es in den nächsten 50 Jahren sein, das entspräche der Fläche des Libanons.

„Probleme kann man nicht durch die gleiche Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind“. Das Zitat von Albert Einstein steht als Motto an der Wand über einem gewaltigen Modell des Mississippis im „Center for River Studies“ der Universität von Louisiana.

Dort wissen sie, was schiefgelaufen ist: Die Eindeichung und Regulierung des Flusses seit den 30er bis in die 70er Jahre war ein Fehler. Heute will man den Sedimentverlust stoppen, mit Milliardenaufwand den Prozess umkehren. Mit bislang bescheidenem Erfolg, der prognostizierte Landgewinn bewegt sich im Bereich weniger Prozentpunkte.

Die Förderung von Gas und Öl am unteren Mississippi – Louisiana ist der zweitwichtigste Standort der USA – hat daneben zu einer Absenkung des Bodens geführt, ebenso die Entnahme von Trinkwasser aus Erdschichten unter New Orleans.

Öl- und Gasförderung senkt Böden ab

Ein ähnliches Phänomen hat der auf der Tagung anwesende Landschaftsarchitekt Jorg Sieweke für Venedig festgestellt. Dort sei die Entnahme von Trinkwasser bis in die 70er Jahre für das Absinken Venedigs verantwortlich, ein Prozess, der bis heute nicht gestoppt werden konnte, mit dramatischen Auswirkungen, wie beim Hochwasser kürzlich wieder zu beobachten war.

Müsse die Folge nicht sein, dass die versammelten Wissenschaftler hier und jetzt ein Statement abgeben, die Öl- und Gasförderung am Mississippi einzustellen, fragte Jürgen Renn in die Runde.

Um sie dann in den Ländern des Südens aufzunehmen, konterte ein indischer Kollege, der ähnliche Phänomene wie am Mississippi für den Ganges festgestellt hat. Einigkeit bestand allein darin, dass ohne Wissenschaft und Technik die Menschheitsprobleme der näheren Zukunft nicht zu lösen sein werden.

Auf Technik hofft auch Geneva Leboeuf. Warum, fragt sie, könnten vor der Küste der arabischen Halbinsel ganze Inseln aufgeschüttet werden, um darauf Hotels zu errichten, während bei ihnen immer häufiger die Autos auf dem einzigen Hügel im Ort geparkt werden müssen, damit es sie nicht davonschwemmt?

Die Antwort ist einfach: Weil niemand mit dem Erhalt einer kleinen indigenen Gemeinschaft Geld verdient.

Die Gemeinschaft der Pointe-au-Chien könnte den Kürzeren ziehen

Im Gegenteil, die Pointe-au-Chien müssen eher damit rechnen, dass im Ernstfall die Wehre geöffnet werden, ihre kleine Gemeinde weggespült wird, wenn es etwa darum ginge, das größere New Orleans vor einer Flutkatastrophe zu bewahren.

Denn dies hat Wirbelsturm Katrina 2005 auch gezeigt: wenn die Ressourcen knapper werden, verschärft sich der Kampf um das verbliebe Land. In New Orleans begünstigte der Wiederaufbau nach Wirbelsturm und Flut vor allem den privaten Sektor.

Der Bestand an öffentlich unterstütztem Wohnraum sei auf weniger als die Hälfte zurückgegangen. Ein Abbau, der in erster Linie die schwarze Bevölkerung traf, wie die afroamerikanische Aktivistin Shana Griffin den Seminarteilnehmern vorrechnete.

Ist das Anthropozän also gerecht, wie das HKW einst fragte? Die französischsprachigen Cajun, die im Delta siedeln, die vor allem afroamerikanischen Bewohner der Cancer Alley, die dort nicht wegkommen, weil ihre Häuser und Grundstücke infolge der toxischen Dauerbelastung schwer verkäuflich sind, die indigenen Stämme auf den Inseln im Delta – sie gehören definitiv nicht zu den Profiteuren.

Golden Spike - der Beweis für den Eintritt ins Anthropozän

Colin Waters, Geologe aus dem britischen Leicester und Sekretär der Anthropozän Arbeitsgruppe, hatte in New Orleans keine Zweifel, dass es ihnen gelingen werde, den Golden Spike, den Beweis für den Eintritt ins Anthropozän zu finden. Vielleicht könne man ihn schon 2021 präsentieren, dann im Berliner HKW, wo man sich im Herbst jenes Jahres wieder treffen wolle.

Waters wurde auch gefragt, ob er sich denn vorstellen könne, was nach dem Anthropozän komme. Zweifellos etwas ohne Menschen, lautete seine knappe Antwort. Die Recherchereise nach Louisiana wurde vom Haus der Kulturen der Welt und dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte unterstützt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false