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Kultur: Antihelden der Arbeit

Ferien von der Leistungsgesellschaft: ein Thomas-Brasch-Duett am Deutschen Theater Berlin

„Lieber Kollege Direktor! Ich bin Herr Ramtur aus der Dreherei und möchte Ihnen einen Vorschlag unterbreiten: Schicken Sie mir bitte jeden Monat mein Gehalt zu. Ich möchte ein Jahr lang nicht arbeiten.“ Die Briefe an den zusehends genervten „Kollegen Direktor“ qualifizieren den Arbeitnehmer Ramtur zum Mann der Stunde. Vor Jahrzehnten, mitten in der realsozialistischen Ära, hat sich Ramtur von jeglicher Identität über die Erwerbsarbeit verabschiedet und damit jenen Schritt vollzogen, der etlichen Mitgliedern der modernen Gesellschaft akut bevorstehen dürfte. Der „Kollege Direktor“ kapiert allerdings nichts: „Auch ich möchte manchmal nicht arbeiten und muss morgens im Bett weinen“, gibt er freimütig zu. Aber: „Was soll aus unserer Fabrik werden, wenn alle so denken wie Sie?“

Auf der Folie heutiger Debatten um die eine grundlegende Wandlung des Arbeitsbegriffs bespiegelt Regisseur Peter Staatsmann in seinem Brasch-Abend „Und über uns schließt sich ein Himmel aus Stahl“ in der Kammer-Box des Deutschen Theaters die sozialistische Arbeitsmoral. Die gleichnamige Erzählung aus dem Band „Vor den Vätern sterben die Söhne“ von 1977 – ein Jahr zuvor war Brasch nach Westberlin übergesiedelt – steht im Zentrum der minimalistischen Veranstaltung mit Margit Bendokat und Christian Grashof. Wie bei der Geschichte vom Dreher Ramtur wissen auch hier sozialistische Antihelden ihre Lebensqualität qua Arbeitsverweigerung zu steigern. Der Ich-Erzähler, ein Fabrikarbeiter mit Talent zur seriellen Krankschreibung, sein Kumpel Robert – „wegen Verhöhnung führender Staatsmänner“ frisch exmatrikuliert – und die Saisonkellnerin Sophie hocken lieber in Ostsee-Strandkörben und erfreuen sich einer sehr unsozialistischen, harmonischen Dreierbeziehung statt an der Werkbank „unserer Fabrik“ zu dienen. Der Trip endet für Robert tödlich, für den Ich-Erzähler im Stasi-Verhör.

Regisseur Staatsmann zieht weitere Antihelden der Arbeit aus Braschs Geschichten hinzu, zum Beispiel den Arbeitsverweigerer Marsyas aus „Zweikampf“. Die Texte sind toll; man hört sie gern wieder. Dem Abend das Attribut „Uraufführung“ zuzuschreiben, ist allerdings irreführend: Mit den Textbüchern in der Hand sitzen Margit Bendokat und Christian Grashof in einer multifunktionalen Wartehalle (Bühne: Till Exit) und lesen die leicht gekürzten, passagenweise umgestellten Erzählungen. Geräuschkulisse vom Band nebst spärlicher Lichteffekte zur Illustration der entindividualisierenden Industriegesellschaft, fünf Schritte vom hinteren zum vorderen Stuhl, eine Grashof-Hand auf dem Bendokat-Bein – das ist schon das Höchste der theatralen Gefühle. Von einer szenischen Lesung zu sprechen, träfe die Sache schon eher.

Die Schauspieler – DT-Protagonisten schon zu DDR-Zeiten – kriechen quasi aus heutiger Perspektive in die Texte hinein. Bei Bendokat hat der Erinnerungsprozess suchenden Charakter: Sie spricht mit ausgesuchter Sachlichkeit, als würde sie sich der Vergangenheit erst im Moment des Lesens vergewissern. Bei Grashof gerät das Sujet dagegen unter Anekdotenverdacht: Episch feiert er jede Pointe. Als sei es ein Märchen aus seligen ökonomischen Zeiten, das man ahnungslosen Enkeln vorm Einschlafen erzählt.

Wieder am 27.2., 5. und 17.3., 20.30 Uhr

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