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Alltag in Israel und Palästina: Szene an einem Checkpoint in der Westbank nahe Betlehem

© Reuters

"Apeirogon" von Colum McCann: In größter Enge so fern

Unendlich viele Seiten: "Apeirogon", Colum McCanns großartig kaleidoskopischer Roman über den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern.

Bassam Aramin und Rami Elhanan sind in Israel recht prominente Persönlichkeiten, auch anderswo auf der Welt kennt man die beiden ungewöhnlichen Männer. Der eine, Aramin, 1969 in einem Dorf nahe Hebron im Westjordanland geboren, also Palästinenser, ist Mitbegründer der Organisation „Combatants For Peace“, in der sich unter anderem ehemalige Soldaten der israelischen Armee wie auch palästinensische Kämpfer zusammengefunden haben, um eine friedliche Lösung des Nahost-Konflikts herbeizuführen.

Der andere, Elhanan, 1949 in Jerusalem geboren und israelischer Staatsbürger, gehört dem „Parents Circle“ an, einem Forum für Menschen, die Angehörige in eben diesem Konflikt verloren haben und das ebenfalls Israelis und Palästinensern, Juden, Christen oder Muslimen gleichermaßen offen steht.

Rami Elhanan und Bassam Aramin haben jeweils den Verlust eines Kindes zu beklagen: Elhanans 14-jährige Tochter Smadar kam 1997 bei einem Selbstmordanschlag in der Ben-Jehuda-Straße in Jerusalem ums Leben; Aramins zehnjährige Tochter Abir wurde 2007 durch ein Gummigeschoss getötet, das ein 18-jähriger israelischen Soldat aus einem Jeep der Grenztruppen auf sie abgefeuert hatte. Beide Väter haben sich im Jerusalemer Hadassah-Krankenhaus kennengelernt, in dem Abir um ihr Leben rang. Seitdem erzählen sie öffentlich auf Podien und in Diskussionsrunden, vor einem mal größeren, mal kleineren Publikum, was ihren Töchtern zugestoßen ist und wie diese Morde sie und ihre Familien verändert haben. „Sie standen sich so nahe, dass Rami nach einiger Zeit das Gefühl hatte, einer könnte die Geschichte des anderen zu Ende erzählen.“

Beide Hauptfiguren verloren durch Mordanschläge eine Tochter

Das wiederum schreibt der 1965 in Dublin geborene irische Schriftsteller Colum McCann in seinem neuen, großartigen Roman „Apeirogon“ (Aus dem Englischen von Volker Oldenburg. Rowohlt, Hamburg 2020. 602 S., 25 €.), dessen Hauptfiguren Bassam Aramin und Rami Elhanan sind. Allerdings erzählt McCann ihre Geschichten und die ihrer Familien und von Smadar und Abir nicht nicht chronologisch oder mit Rückblenden, sondern voller Abschweifungen.

Gleich im dritten Kapitel des Romans geht es um die Flugroute von Vögeln, die über Israel und die palästinensischen Gebiete ziehen, im vierten und fünften um die Steinschleuder als Waffe und das Töten von Vögeln, im sechsten Kapitel um den einstigen französischen Staatspräsidenten François Mitterrand, der sich kurz vor seinem Tod Ortolane servieren ließ, winzige Singvögel, die in Frankreich als Delikatesse gelten: „Das einzig Interessante ist, zu leben, sagte er“, legt McCann Mitterrand in den Mund.

Der irische Schriftsteller Colum McCann, 55
Der irische Schriftsteller Colum McCann, 55

© AFP

Und bevor Bassam Aramin überhaupt seinen ersten Auftritt hat, thematisiert der Roman die Überwachung der Flugrouten mit modernen Radaranlagen, wie manche Vögel in einer Beringungsanlage im Westjordanland markiert werden und schließlich, wie Aramins Tochter ums Leben kam: Sie hatte sich gerade etwas Süßes gekauft, als das Gummigeschoss sie traf „und ihre Schädelknochen zertrümmerte wie die eines winzigen Ortolans“. Allein diese kurze Inhaltsangabe zeigt an, dass die Kapitel in McCanns Roman rasch aufeinanderfolgen, es überhaupt sehr viele gibt, nämlich 1000. Manche Kapitel bestehen nur aus einer Zeile oder einem Satz, und nach genau der Hälfte bekommen sie eine absteigende Nummerierung, ohne dass „Apeirogon“ nun rückwärts erzählt werden würde. McCann spricht von einem „Hybrid“-Roman.

Man könnte ihn auch als Collage bezeichnen, als die Summe vieler auseinanderstrebender Einzelteile, die nicht zuletzt mit Hilfe der Mathematik zusammengehalten werden. Denn der sperrige Titel ist mit Bedacht gewählt: Ein Apeirogon ist eine Figur „mit einer zählbar unendlichen Menge Seiten“, wie im 95. Kapitel des zweiten Romanteils erklärt wird, eine degenerierte geometrische Figur.

Ein Apeirogon ist eine degenerierte geometrische Figur

Ein Romantitel, der das Erzählprogramm vorgibt: Der irische Schriftsteller fächert die gleichfalls vielen Facetten des Nahostkonflikts auf und schildert zum Beispiel den beschwerlichen, von Checkpoints, Mauern und vielerlei anderen Nachteilen dominierten Alltag der Palästinenser im allgemeinen und den von Rami und Bassam im besonderen.

der er geht historisch in die Tiefe, vom Holocaust über die Nakba von 1948, der Vertreibung von über 700.000 Palästinensern aus dem einstigen britischen Mandatsgebiet Palästina, (die wiederum in Lateinamerika, insbesondere Chile ihren Nachhall findet, wohin viele Palästinenser fliehen), bis hin zu den diversen israelisch-arabischen Kriegen und den drei Intifadas; nicht zuletzt hat Rami Elhanan 1967 und 1973 an zwei dieser Kriege teilgenommen.

Und McCann erzählt Episoden aus dem Leben von anderen Figuren der Zeitgeschichte: von dem Afrikaforscher und Mekka-Reisenden Richard Francis Burton; dem irischen Priester Christopher Costigin, der im frühen 19. Jahrhundert den Jordan und das Tote Meer erkundete; dem Nukleartechniker Mordechai Vanunu, der das israelische Atomprogramm verriet und dafür 18 Jahre Haft bekam, oder von dem palästinensischen Dichter und „1001-Nacht“-Übersetzer Abdel Wael Zwaiter, der 1972 vom Mossad erschossen wurde.

Der palästinensische Aktivist Bassam Aramin im Jahr 2007.
Der palästinensische Aktivist Bassam Aramin im Jahr 2007.

© picture alliance/ASSOCIATED PRESS

Auch der Musiker John Cage bekommt Kapitel, der Hochseilartist Philippe Petit, der 1987 in Jerusalem seine Kunst zeigte (und schon in McCanns Roman „Die große Welt“ eine Rolle spielte), oder der große argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges, der in den siebziger Jahren durch Jerusalem spazierte. Am Ende lässt McCann Borges gestehen, seine Verzweiflung als Schriftsteller habe damit begonnen, das unendliche Aleph in Sprache auszudrücken: „den Punkt im Raum, der alle anderen Punkte in sich birgt.“

Man könnte glauben, McCann habe in „Apeirogon“ hin und wieder dem Zufall die Regie überlassen. Dagegen spricht Borges’ Aussage, trotz seiner Aleph-Verzweiflung „so viel wie möglich festhalten“ zu wollen, wie es auch McCann tut; dagegen spricht die Symmetrie dieses Romans. Zum Beispiel erläutert das Kapitel 220 im ersten wie im zweiten Teil, was „befreundete Zahlen“ sind; und in der Mitte des Romans gibt es Selbstporträts von Rami Elhanan und Bassam Aramin, da übernehmen beide einmal die Ich-Perspektive.

Elhanan und Aramin nennen sich "Holocaust-Absolventen"

Und dagegen spricht natürlich, dass McCann stets auf seine Hauptfiguren zurückkommt, auf ihre gemeinsamen Aktivitäten, wegen denen sie häufig als „Nestbeschmutzer“ bezeichnet werden, auf ihren unermüdlich wiederholten Erzählungen von der Ermordungen ihrer Töchter.

Bassam zum Beispiel erkrankte kurz nach seiner Geburt an Kinderlähmung, schloss sich in jungen Jahren der Fatah an und kam im Alter von 17 Jahren in ein israelisches Gefängnis, wo er sieben Jahre absaß. Schon im Gefängnis entschloss er sich, ungewöhnlich genug, ebenfalls „Holocaust-Absolvent“ zu werden (so wie sich Rami Elhanan häufig nennt), und nach der Entlassung Hebräisch zu lernen und unter anderem eine Masterarbeit mit dem Titel „Der Holocaust: Über den Einsatz und Missbrauch von Erinnerung“ zu schreiben.

Der israelische Aktivist Rami Elhanan im Jahr 2010.
Der israelische Aktivist Rami Elhanan im Jahr 2010.

© AFP

Rami Elhanan wiederum, um nur einen weiteren Aspekt aus dessen Leben kurz zu fassen, ist der Ehemann der prominenten Friedensaktivistin, Komparatistik-Professorin und Autorin Nurid Peled-Elhanan, ihrerseits Tochter des 1995 verstorbenen, in Israel nicht weniger prominenten Politikers, Generals und Arabistik-Professors Matti Peled.

So mag in diesem Roman viel auseinanderstreben und allein durch die Form zusammengehalten werden. Doch gibt es ein Zentrum, in dem der unbedingte Wille zum Frieden, zur Versöhnung, zum gegenseitigen Verstehen sein Zuhause hat. Dabei ordnet McCann sich in diesem Fall als Erzähler stets seinem Stoff und der Form unter, in dem er oft aufzählt, technische Erklärungen macht oder schnell Perspektiven, Zeit und Raum wechselt. Was fast ein bisschen schade ist: Wie prächtig und ausufernd sind frühere McCann-Romane wie „Zoli“, „Der große Fall“ oder „Der Tänzer“ erzählt! Eine geschlossene, sinnfällige, inhaltliche Dramaturgie kann es jedoch dieses Mal nicht geben; kein Ende der Leidensgeschichte von Rami Elhanan und Bassam Aramin, keines des unendlich wirkenden Konflikts von Israelis und Palästinensern, all dem Bemühen der beiden Männer zum Trotz. Schon lange ist kein Schriftsteller, keine Schriftstellerin diesem Konflikt literarisch so gerecht geworden wie Colum McCann mit „Apeirogon“.

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