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Kultur: Archipel Glucksmann

Der undogmatische Dogmatiker: Wie der französische Philosoph sich sein Leben zurechtdenkt

Von Gregor Dotzauer

Nihilismus, wohin sein Auge blickt. André Glucksmann kämpft gegen den marxistischen Nihilismus, den postmodernen Nihilismus, den islamistischen Nihilismus – soviel Nihilismus, dass es auf keine nihilistische Kuhhaut geht. Und wo kein Nihilismus ist, da entdeckt er, mitten im Herzen demokratischer Gesellschaften, das „Verbrechen der Gleichgültigkeit“. Ungestört kann so das Böse zwischen Ruanda und Tschetschenien sein Medusenhaupt erheben, mordet Völker, schafft Hungersnöte und brütet politische Tyrannen aus. Die Art und Weise, wie Glucksmann über das Böse spricht, rückt es in eine geradezu metaphysische Dimension. Ein unerschöpfliches Reservoir von dunklen Kräften sucht sich da immer neue Akteure – als bräuchten Hass und Unterdrückung als Teil der destruktiven menschlichen Natur, die stets das Gute will und stets das Böse schafft, nicht auch konkrete Gründe, um sich Bahn zu brechen.

Die antikommunistischen Schlachten, die der Sarkozy-Anhänger Anfang der siebziger Jahre unter dem Eindruck von Solschenizyns „Archipel GULAG“ – seinem Erweckungserlebnis nach einem halben Leben als glühender Antifaschist – schlug, sind weitgehend geschlagen. Glucksmanns Furor ist davon keineswegs erlahmt. Die Frontstellung gegen zwei Totalitarismen hat seine Haltung erst universalisiert. So wurde er, was er heute ist. Ein Menschenrechtsfundamentalist, der jede Realpolitik für Zynismus hält, aber ungerührt die tschetschenischen Rebellen, die 2002 die Zuschauer eines Moskauer Theaters als Geiseln nahmen, zu legitimen Freiheitskämpfern erklärt und das tödliche Sprengstoffattentat auf den prorussischen tschetschenischen Präsidenten Kadyrov 2004 begrüßt. Ein Denker, der verspricht, dem Denken alles Ideologische auszutreiben, aber als bedingungsloser Anwalt Israels und Amerikas bis heute weder ein Wort über die Palästinenserfrage verloren noch sein Hurra zum Irakfeldzug revidiert hat. Ein in Frankreich nach wie vor tonangebender Moralist, der das Gewissen, erfahrungsgemäß eine reichlich störanfällige Instanz, über alles stellt.

Glucksmanns Erinnerungen „Wut eines Kindes, Zorn eines Lebens“ führen zum ersten Mal hinein in die biographischen Motive seines Denkens. Liebevoll erzählt es von der deutsch-französischen, jüdisch-christlichen Doppelidentität, die dem 1937 geborenen Glucksmann das Überleben im Vichy-Frankreich ermöglichte. Anders als seinen beiden noch in Österreich geborenen älteren Schwestern verschaffte ihm das ius soli das Privileg einer französischen Staatsbürgerschaft, und der Name Joseph Rivière verschleierte seine jüdische Herkunft. An den Namen Glucksmann musste er sich nach dem Krieg erst gewöhnen. Im Alter von vier Jahren wurde er, ohne dass er daran noch lebendige Erinnerungen hätte, zusammen mit seiner Mutter und der Schwester Micky im Lager Bourg-Lastic interniert, um an die Nazis ausgeliefert zu werden. Nur die Unerschrockenheit der Mutter sorgte dafür, dass sie bei der Selektion den Nicht-Juden zugeschlagen wurden.

Doch schon nach zwei, drei Kapiteln verlässt Glucksmann der erzählerische Elan und vor allem: sein Erinnerungsvermögen. Er verfällt in ein Philosophieren und Predigen, das die eigene Person aus dem Blick verliert. Stattdessen inszeniert er mit hohem Stilbemühen den Meinungsheroen und Geistesmenschen. Glucksmann eilt von politischem Brennpunkt zu politischem Brennpunkt und von Dichterinterpretation zu Dichterinterpretation: von Baudelaire zu Hugo zu Mallarmé. Als Autobiographie sind diese „Erinnerungen“ daher schon wegen ihres Mangels an Auskunftsbereitschaft eine Enttäuschung. Gerade da, wo Glucksmann im Privaten erschüttert gewesen sein muss, hält er sich bedeckt – so, als könne er sich zwar um das Schicksal ganzer Völker sorgen, nicht aber um das eigene. Welches Verhältnis er zu seiner Mutter hatte, die nach dem Krieg ohne ihn nach Wien zurückkehrte, erstickt er in stoischen Sätzen. Selbst der Besuch an ihrem Totenbett erzählt weniger von der letzten Begegnung mit einer Person, die ihm mindestens zweimal das Leben schenkte, als vom physischen Skandal des Todes im Allgemeinen. Und als die historische Freude über den Mauerfall mit der Nachricht zusammenfällt, dass er an Krebs erkrankt sei und nur noch wenige Monate zu leben habe, lautet sein Kommentar nur: „Ich zog Bilanz.“ Finis.

„Une rage d’enfant“ gestattet dem Leser gerade soviel Einblick in Privates, wie es Glucksmanns intellektueller Bildungsroman fordert. Aber auch er bleibt papieren. Nicht ein lebendiges Porträt seiner geistigen Mentoren (Verführer gibt es erst gar nicht), nichts über Frauen und Feinde, so gut wie nichts über Freunde - und kein Sterbenswörtchen über seinen Sohn, den Filmemacher Raphael, den er in einem Fragebogen einmal die größte Leistung seines Lebens nannte. Als Mentalitätsgeschichte der französischen Nachkriegsintellektuellen taugen Glucksmanns wie von weit außen beobachtete Szenen mit seinem akademischem Lehrer Raymond Aron, Jean-Paul Sartre, Michel Foucault oder Daniel Cohn-Bendit erst recht nichts.

Das Misslingen dieser Erinnerungen ist so offenkundig, dass es sich lohnt, über die Gründe zu spekulieren. Man macht es sich zu einfach, wenn man es als ein Problem des Tons beschreibt, bei dem der Prediger dem Erzähler ins Handwerk gepfuscht hat. Es muss vielmehr mit dem Stoff dieses Lebens selbst zu tun haben. Wer in den Spiegel autobiografischen Schreibens schaut, entdeckt darin nicht selten einen Fremden. Glucksmann aber findet im Wesentlichen den unabhängigen, ideologiefeindlichen Geist, der er immer schon gewesen zu sein meint. Die politische Kehrtwende zu Anfang der siebziger Jahre: eine Petitesse. Glucksmann Zeit als KPF-Mitglied, bis ihn die Partei 1957 wegen seines Protests gegen die Niederschlagung des Ungarn-Aufstands 1957 ausschloss, wird nicht einmal erwähnt, die Monate als „Anarchomaoist“ im Anschluss an den Mai 1968 werden nur knapp referiert. Nichts scheint für einen politischen Renegaten wie ihn schlimmer zu sein, als wenn er sich eingestehen müsste, die einstige Mission nur unter umgekehrten Vorzeichen fortzusetzen. Glucksmanns Denken und Empfinden, wie es dieses Buch dokumentiert, ist deshalb das Ergebnis einer doppelten, miteinander konkurrierenden Kontinuität: einer verschwiegenen und einer offenen, einer in den Untiefen des Gedächtnisses verschwundenen und einer literarisch hergestellten.

Nicht ohne Talent zur Selbstironie entdeckt er in der Wut des dem Holocaust entkommenen André, der an einem Sommertag nach Kriegsende im Park eines von der Familie Rothschild gestifteten Heims für gerettete Kinder seinen linken Schuh aufschnürt und ihn – „ein jämmerlicher Irrer“ – nach seinen Wohltätern wirft, die Schlüsselszene seines Lebens. Er interpretiert sie als Ekel, ohne weiteres zum Frieden einer bürgerlichen Gesellschaft zurückzukehren: „So viel Güte und Liebenswürdigkeit kamen mir merkwürdig vor. Der Versuch, all die Wunden einer universellen Brutalität zu verarzten, stieß mich tendenziell eher ab.“

Nein, sine ira et studio – ohne Zorn und Eifer – vorzugehen, wie es Tacitus in der Einleitung zu seinen „Annalen“ ankündigte, war seine Sache nie. Und so waren auch die antikommunistischen Studien, mit denen er berühmt wurde, stets heftige Polemiken: „Köchin und Menschenfresser“ mit dem programmatischen Untertitel „Über die Beziehung zwischen Staat, Marxismus und Konzentrationslager“ ebenso wie „Die Meisterdenker“: ein Stück wilden Philosophierens, das Fichte, Hegel, Marx und Nietzsche mitverantwortlich für die Tyranneien des 20. Jahrhunderts macht – vom linken GULAG bis zur rechten Diktatur von Pinochet.

Danach war vielleicht noch die Philosophie dieselbe, nicht aber die politische Großwetterlage. „Vielleicht“, sagt Glucksmann, „habe ich zu dieser Wende beigetragen, indem ich den Götzen des in der Pariser Intelligenzija vorherrschenden Marxismus zerschlug. Als sich einige gute Federn meinen Blasphemien anschlossen, tauften Bernard Henri-Lévy und die Medien diese provisorische und lose Gruppe ein wenig unvermittelt die Vertreter der ‚Neuen Philosophie’.“

André Glucksmann betrachtet sich als einen Philosophen wider Willen: aus Ehrfurcht vor Platon, Aristoteles und Hegel, aus Abscheu vor all den marxistischen Professoren, die diese Bezeichnung für sich beanspruchten, und aus einer Volksverbundenheit heraus, die aber nicht weit trägt. „Die vermeintlich intellektuellen Fragen sind nicht den Intellektuellen vorbehalten“, schreibt er, nicht ohne Koketterie, in seinen Erinnerungen, deren Bildungsschwere diesen Anspruch sofort wieder zunichte macht. Das gilt zumindest für alle Fragen, wie man sich selbst erinnernd auf die Schliche kommt.

André Glucksmann , am 19. Juni 1937 in Boulogne-Billancourt geboren, ist das dritte Kind österreichischer Juden, die vor den Nazis nach Frankreich flohen und in der Résistance kämpften. Der Vater ertrank 1940 im Ärmelkanal, nachdem sein Boot torpediert worden war.

Mit 17 Jahren trat Glucksmann der KPF bei, aus der er 1957, nach Protesten gegen die Niederschlagung des Ungarn-Aufstands ausgeschlossen wurde. Er studierte u.a. bei Raymond Aron Philosophie und gehörte zu den Protagonisten des Pariser Mai 1968 , in dessen Gefolge er sich einer maoistischen Splittergruppe anschloss.

Anfang der siebziger Jahre wurde er neben Bernard-Henri Lévy zum Protagonisten der antikommunistischen

nouveaux philosophes . Sein Erinnerungsbuch Wut eines Kindes, Zorn eines Lebens ist nun

im Verlag Nagel &

Kimche erschienen (319 Seiten, 23,50 €).

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