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Architektur-Biennale von Venedig: Die Ankunftsstadt

Die 15. Architektur-Biennale von Venedig bietet Lösungen für die Fragen des 21. Jahrhunderts – sparsam, lokal, innovativ und traditionsbewusst.

Recycling ist im Bauwesen mittlerweile Standard oder sollte es sein, da muss natürlich auch die Architektur-Biennale von Venedig zeigen, dass sie auf der Höhe der Zeit ist. Wie viel Abfall fällt bei den temporären Einbauten einer Ausstellung an, noch dazu in den schönen, leeren Hüllen des jahrhundertealten Arsenals und den weiteren Bauten zur Unterhaltung der einstigen Flotte der Serenissima!

Allein 10 000 Quadratmeter Gipskartonplatten und vierzehn Kilometer Metallschienen blieben beim letzten Mal übrig, und statt sie auf eine Deponie abzufahren, dienen sie nun der Gestaltung des Eingangsraumes zum Arsenal: die Gipsplatten längs aufgeschichtet und sehr dekorativ abgebrochen, ein Relief vor den Backsteinmauern bildend, und die Metallschienen verdreht und verbogen, doch in gleichmäßiger Länge von der Decke hängend. Der Besucher begreift: In den folgenden Räumen werden keine hochglanzpolierten Bauvorhaben präsentiert, sondern das Alltagsgeschehen des Bauens aus Material, Handwerk und praktischem Verstand.

Solcher common sense durchzieht alle Projekte der 88 Architekten und Architekturbüros, die der Künstlerische Direktor der Biennale, der 48-jährige Chilene Alejandro Aravena, diesmal eingeladen hat. Nun hat es Rückgriffe auf die Grundbedingungen des Bauens, auf allverfügbare Materialien und einfache, tradierte Handhabung, auf eine Architektur, die man im Angelsächsischen als „vernacular“ bezeichnet und im Deutschen nicht auf „traditionell“ reduzieren darf, zuletzt bei mehreren Biennalen gegeben. Man könnte sagen, das ist der Zeitgeist.

Nur ist Aravena dessen eloquentester, dabei durchaus prinzipienfester Interpret. Sein Generalmotto „Berichte von der Front“ ist recht eindimensional auf die besondere Problematik der weltweiten Migration – bei Weitem nicht nur von Flüchtlingen – und der dadurch notwendigen Ad-hoc-Unterbringung bezogen worden. Tatsächlich meint Aravena die Schlachten, die überall geschlagen werden müssen, gegen Material- und Geldknappheit ebenso wie gegen Bürokratie oder Profitgier, gegen alles, was Qualität verhindert, verstanden als Fähigkeit, das Leben der Menschen zu verbessern.

Ein goldener Löwe für den spanischen Pavillon

Zur Eröffnung am Samstag zeichnete die Jury den spanischen Pavillon mit dem Goldenen Löwen aus: „eine Auswahl aufstrebender Architekten, deren Arbeit zeigt, wie Kreativität und Engagement Materialzwänge überwinden können.“

Aravena hat mit seinen Sozialbauprojekten Aufsehen erregt, bei denen die Selbstbeteiligung der Nutzer im Vordergrund steht; aber er ist, was man leicht übersehen kann, im internationalen Architekturbetrieb bestens vernetzt. Zuletzt erhielt er mit dem diesjährigen Pritzker-Preis die höchstdotierte Auszeichnung seines Fachs, und auch da war er der ideale Kandidat für die überfällige Verjüngung der lange Zeit auf verdiente Architektursenioren fokussierten Preisvergabe. Aravena, im persönlichen Styling unaufdringlich, aber stets punktgenau trendy, kann Gegensätze vereinen, ohne prinzipienlos zu sein, und so bekommt er einfach alle an einen Tisch.

So finden sich denn in der von ihm verantworteten Ausstellung im 500 Meter langen Arsenal und dem verschachtelten Zentralpavillon in den Giardini nicht nur erwartbare Beispiele von good practice wie die Recycling-Architektur des – ebenfalls Pritzker-Preisträgers – Wang Shu. Er hat aus den anthrazitfarbenen Ziegeln chinesischer Hofhäuser große Kulturbauten geschaffen.

Man stößt hier auch auf die Rohbau-Konstruktion zur Eigenvervollständigung von den deutschen Bel Architekten, vorgeführt bei der IBA in Hamburg, oder Luigi Snozzis Neuinterpretation dörflicher Identität im heimischen Tessin. Dazu gibt es zahlreiche weniger bekannte Bauten, die etwas Spezifisches aufweisen, um das es Aravena zu tun ist; um die besondere Bauweise, die lokale Tradition, um Energieeinsparung, Dauerhaftigkeit und Materialeinsparung sowieso.

Ferner sieht man Überlegungen zu transitorischen Städten, eindrucksvoll am Beispiel des alle zwölf Jahre stattfindenden Kumbh-Mela-Festes im indischen Allahabad, das sich über 55 Tage erstreckt, insgesamt 100 Millionen Besuchern zählt und aus dem Nichts eine funktionierende, städtisch zu nennende Großsiedlung erschafft. Dem Einsatz lokaler Materialien verdanken sich die Schulbauten in abgelegenen Dörfern Südafrikas von Luyanda Mpahlwa wie auch die Bauten von Studio Mumbai in der übervölkerten Metropole Indiens. Zur Demonstration vernachlässigter Techniken sind an mehreren Stellen der Biennale Segmentkuppeln aus dünnen Ziegeln oder einmal auch aus aneinander geschuppten Betonplatten aufgebaut, um die strukturale Festigkeit solcher ohne komplizierte Maschinen zu errichtende Leichtbauweisen zu zeigen.

Daneben gibt es dann plötzlich mongolische Jurten, die daran erinnern, dass ganze Völker in temporären Bauten leben, und die zudem, aufgrund der brachial verfügten Urbanisierungspolitik der Volksrepublik China, inzwischen dauerhaft in der Hauptstadt Ulaan Bataar aufgestellt sind, auf der Scheidelinie von nomadisch und sesshaft.

Diese Biennale ist eine Feier des Pragmatismus

Es gibt also sehr viel zu staunen und zu lernen bei dieser Biennale. Sie ist eine Feier des Pragmatismus. Da fügen sich auch die Großmogule der Architektur nahtlos ein – Norman Foster mit einem hypermodern als Drohnen-Flughafen bezeichneten Kuppelbau, David Chipperfield mit seinem flach geduckten Museumsbau in der Wüste des Sudan, Renzo Piano, dessen Building Workshop schon immer kompatibel war mit allen Anstößen von Partizipation und Diskurs.

Jean Nouvel darf von seinem Riesenbau des Louvre Abu Dhabi nur den in Zusammenarbeit mit den Hi-Tech-Leuten von Transsolar erdachten „Lichtregen“ zeigen, bei dem Licht durch kleine Öffnungen im Deckengewölbe wegen der ortstypischen Kombination aus Staub und Feuchtigkeit als Strahlen sichtbar wird wie auf alten Fotografien aus bunt befensterten Kathedralen.

Gegenüber der straff komponierten Leitausstellung tun sich die nationalen Beiträge erstaunlich schwer. 65 Länder nehmen teil, fünf davon erstmals – der Kreis der Teilnehmer wächst von Mal zu Mal –, und nur 30 finden im althergebrachten Gelände der Giardini Platz, noch weniger in jeweils eigenem Pavillon. Da und dort gibt es dann auch gebaute Architektur zu sehen, in zahllosen Beispielen dichtgedrängt im Pavillon der Nordischen Länder, in Beispielen kleiner Architektur bei den modellbauverliebten Japanern, eindrucksvoll bei Spanien unter dem Titel „Unvollendet“ mit Bauten nach der Krise, die den völlig überhitzten Immobiliensektor bis heute lahmlegt.

Russland zehrt einmal mehr vom baulichen Erbe der Stalinzeit und poliert das Gelände der „Ausstellung volkswirtschaftlicher Errungenschaften“ in Moskau auf. Bei den USA wird das heruntergekommene Erbe des Industriezeitalters im verarmten Detroit angegangen. So richtig aufgenommen wird das Migrationsthema im österreichischen und vor allem im deutschen Pavillon: der ist, nach dem Titel des erfolgreichen Buches des Journalisten Doug Sanders, plakativ zur „Arrival City“, zur Ankunftsstadt grellfarbig ausstaffiert. Vier Öffnungen hat Kurator Oliver Elser vom Deutschen Architekturmuseum Frankfurt/Main in die Mauern brechen lassen; die müssen nach Ausstellungsende wieder zugemauert werden, aber so lange steht der Pavillon offen, 24 Stunden, no borders, fast wie im richtigen Leben. Architektur im eigentlichen Sinne findet sich in Gestalt von Notunterkünften, wie sie Städte und Gemeinden allmählich denn doch auf die Beine stellen, und überwölbt wird alles von Statistiken zu Neukölln oder Offenbach am Main, zum Arbeitsmarkt und zur Sofortintegration in der Grauzone etwa des Asienmarkts von Lichtenberg.

„Gute Architektur schafft etwas, das über ihre eigene Existenz hinausweist“

Ein stiller Beitrag in den Giardini sticht heraus, gerade weil er so unauffällig ist: das Großzelt der Westsahara. Den Staat gibt es nicht. Wohl aber die Probleme der dortigen, von kolonialen Machtansprüchen gebeutelten Region: Flucht, Migration, Lager, Spontansiedlungen; 160 000 Sahrawis, wie die Bewohner heißen, leben zum Teil seit 40 Jahren in solchen Siedlungen, die ganz eigene Bauformen ausgebildet haben und dabei sozialen Systemen wie Schule und Bildung Form geben. Die Grenzen der jeweiligen Begriffe sind fließend, und übrigens ist das eine der wichtigsten Erkenntnisse, die diese Biennale vermittelt: nur nicht alles über einen Kamm scheren. Zwischen Camp und Slum, zwischen Favela und Banlieue liegen Welten, und wo etwa Flüchtigkeit endet und Dauerhaftigkeit beginnt, ist eine Frage der Perspektive.

„Gute Architektur schafft etwas, das über ihre eigene Existenz hinausweist“, heißt es an einer Stelle des Biennale-Handbuchs, der alle ausgestellten Projekte in knappen Texten vorstellt. Diesen Euphemismus darf man als ein weiteres Leitmotiv Aravenas verstehen. Die alte Utopie der Moderne, mit Architektur die Gesellschaft zum Besseren verändern zu können, lebt bei ihm weiter, freilich ernüchtert um das einstige Vertrauen in Technik und Großprojekte.

Bei der Eröffnung entledigte er sich gleich noch des Verdachts, eine humanitäre Biennale zu veranstalten. Es genüge, die Problemfelder von heute anzusprechen; deren 14, von Ungleichheit bis Kriminalität, hat er im Katalog in einer Bleistiftskizze aufgezählt. Architektur soll angemessen sein, bedeutsam in Bezug auf die gestellten Probleme.

Es fällt schwer, sich nach dieser, bei aller Ernsthaftigkeit durchaus nicht sauertöpfisch-belehrenden 15. Architektur-Biennale jemals wieder eine Modenschau superlativischer Bauprojekte in Venedig vorzustellen. Immobilienmessen gibt es anderswo.

Venedig, Arsenale und Giardini, bis 27. November. Katalog (2 Bde.) 70 €, Kurzführer 16 €. Infos und umfangreiches Beiprogramm unter www.labiennale.org.

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