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Architektur: Das Fabrikschiff von Leningrad

Erich Mendelsohn und seine sowjetischen Bewunderer: Der Petersburger Dialog beschäftigt sich mit den Bauten der Avantgarde

Seit den kriegerischen Tagen des Georgienkonflikts wird der Dialog mit Russland deutlich kritischer gesehen. Merkwürdig – denn Foren wie der Petersburger Dialog, eine hochrangig besetzte, knapp unter der Regierungsebene angesiedelte Gesprächsrunde, haben ihre Aufgabe darin, auch kritische Zeiten zu überdauern und jenen Faden fortzuspinnen, der gelegentlich aus symbolpolitischen Gründen abgeschnitten zu werden droht.

Diesmal hatte sich die Arbeitsgruppe Kultur dieses Gremiums – unter dem gemeinsamen Vorsitz von Goethe-Instituts-Präsident Klaus-Dieter Lehmann und Eremitage-Direktor Michail Piotrowsky – ein passendes Thema für ihre herbstliche Zusammenkunft in St. Petersburg auserkoren: die Architektur der Avantgarde. Mit der glanzvollen Residenzstadt an der Newa bringt man sie nicht unbedingt in Verbindung. So sieht es wohl auch die russische Seite. Während sich Moskau seines Erbes der zwanziger und frühen dreißiger Jahre entsinnt und Denkmalschutz für Bauten des Konstruktivismus und Funktionalismus kein Fremdwort mehr ist, sind vergleichbare Bauten in der Stadt Peters des Großen erst noch zu entdecken. So war dem eigentlichen Forum, das am gestrigen Freitag zu Ende ging, ein zweitägiges Besichtigungsprogramm vorgeschaltet, um die außerhalb des zur Zarenzeit geformten Stadtinneren gelegenen Bauten aufzusuchen.

Aus deutscher, zumal Berliner Sicht ist jedoch gerade das Leningrader Erbe für den deutsch-russischen Austausch geeignet, hat doch kein Geringerer als Erich Mendelsohn, der Architekt eleganter Warenhäuser und Villen in der Weimarer Republik, in der damals frisch benannten Stadt Lenins mit der Textilfabrik „Rote Fahne“ eine Ikone der Moderne geschaffen. Als Mendelsohn 1925 die Einladung zum Bau der Fabrik auf der Wassili-Insel erhielt, erwarteten die Auftraggeber einen ähnlich ingeniösen Entwurf, wie ihn der Architekt zuvor für die Hutfabrik in Luckenwalde gefunden hatte. Mendelsohn, der stets auf die Gesamtwirkung eines Ensembles bedacht war, entwickelte für das fabrikeigene Kraftwerk eine ungemein folgenreiche Form. Er gab dem Kesselhaus einen abgerundeten Bug auf breitem Sockel – „ein Schiff, das die ganze Fabrik hinter sich herzieht“, wie der Architekt formulierte. So wurde der Fabrikkomplex, obwohl die tatsächliche Ausführung weit hinter dem grandiosen Entwurf des Architekten zurückblieb, zu einem Symbol der Sowjetmacht in den Jahren ihrer Stabilisierung.

Konflikte um die Ausführung – unter anderem kam minderwertiges Material zum Einsatz – veranlassten Mendelsohn bereits 1927, die Bauleitung niederzulegen. Fotografien aus den dreißiger Jahren lassen die mangelnde Pflege erkennen; aber ebenso, dass Mendelsohn hier mit demselben Schwung gearbeitet hat wie bald darauf am Kino- und Wohnkomplex am oberen Berliner Kurfürstendamm. Das vertikale Fensterband im gerundeten Sockelgeschoss, über dem zurückgesetzt der fensterlose Rundbau des Wasserspeichers aufsitzt, beeindruckte die Leningrader Kollegen als Verwirklichung der Mendelsohn’schen Losung „Funktion plus Dynamik“ zutiefst.

Die Rundfahrt zu den durchweg in beklagenswertem Erhaltungszustand befindlichen Bauten zeigte jetzt, wie sehr sich die Bauensembles für Kulturhäuser oder Brotfabriken bis in die dreißiger Jahre hinein an der funktional begründeten, zugleich aber expressiven Formensprache Mendelsohns orientierten. Doch gibt es auch bewusst rechtwinklige, ineinander verschachtelte Entwürfe wie das Kulturhaus „Iljitscha“, das rare Beispiel einer suprematistischen Architektur von Flächen und Kuben. Ihm gegenüber steht der frühstalinistische Großbau des Bezirkssowjets, den Igor Fomin, der Sohn des Petersburger Klassizisten Iwan Fomin, 1931 mit Natursteinfassaden und mächtigem Rundbau entwarf. Zwei Epochen prallen da aufeinander.

Das heutige denkmalpflegerische Verständnis ist in beiden Fällen gleichermaßen unterentwickelt, wie die Besichtigung erschreckend deutlich machte. Plastikfenster, Lüftungskanäle, Dekortüren – die Liste der Scheußlichkeiten ließe sich fortsetzen, zumal um Eingriffe, die nahezu irreversibel sind. Das Denkmalschutzkomitee der Stadt ist gleichwohl zufrieden: nämlich, dass die Bauten überhaupt erhalten werden.

Zum „Petersburger Dialog“ legten der scheidende Komitee-Leiter Boris Kirikow und dessen Mitarbeiterin Margarita Stiglitz stolz ein Buch über die „Architektur der Leningrader Avantgarde“ vor. Die Miniaturauflage von 700 Stück indes verrät mehr über das geringe Interesse im heutigen St. Petersburg, als alle Worte über die – so in der abschließenden „Gemeinsamen Erklärung des Petersburger Dialogs“ – erhoffte „Modernisierungspartnerschaft“ zu beschönigen vermögen.

Nun lässt sich Interesse auch wecken. Die Absicht des neuen Besitzers der viele Jahre lang dem Verfall preisgegebenen Mendelsohn-Fabrik, im Kesselhaus eine kulturelle Nutzung einzurichten und das weitläufige Gelände durchaus zurückhaltend zu bebauen, könnte erneut so beispielgebend wirken wie seinerzeit das Gebäude selbst. Ob das Signal verstanden wird, ist allerdings mit einem Fragezeichen zu versehen. Auf deutscher wie auf russischer Seite hat sich um das Thema der sowjetischen Avantgarde mittlerweile eine Art Wanderzirkus der immergleichen Teilnehmer gebildet, von denen manche in der Durchführung der – ebenfalls immergleichen – Konferenzen, „Workshops“ und Ausstellungen ihr Auskommen gefunden haben.

So ähnelten die Rednerlisten in St. Petersburg denen vergangener Zusammenkünfte in Moskau oder Berlin, wurden erneut die altbekannten Ausstellungen zu Mendelsohn und zu Bruno Taut eröffnet, diesmal schamhaft ergänzt um einige wenige Schautafeln zur Leningrader Architektur – deren Kenntnis seitens der deutschen Avantgarde-Kundler sich bei der Besichtigungstour als verbesserungsbedürftig erwies. Die Gefahr ist groß, dass sich eine Struktur verfestigt, der die Sicherung stetiger „Projektmittel“ wichtiger wird als die Realisierung der stets geforderten Denkmalschutzmaßnahmen. Der Umgang mit Mendelsohns Leningrader Geniestreich wird die Nagelprobe auf die Ernsthaftigkeit der guten Absichten bilden, die im deutsch-russischen Dialog Mal um Mal beschworen werden.

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