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Birgit Jooss im Magazin am Robert-Koch-Platz.

© Mike Wolff

Archiv der Akademie der Künste Berlin: Aufbewahren bis: für immer

Tucholskys Pistole und das Familienalbum von Romy Schneider: Direktorin Birgit Jooss hütet die Archivalien der Akademie der Künste.

So langsam feminisiert sie sich – die 300 Jahre alte Akademie der Künste. Schon zwei Monate, bevor die erste weibliche Doppelspitze Jeanine Meerapfel und Kathrin Röggla Anfang Juni an die Spitze der altehrwürdigen Künstlergemeinschaft gewählt wurden, hat Birgit Jooss den Posten der Archivdirektorin übernommen. Seit dem 1. April ist sie im Amt. Der erste öffentliche Auftritt war allerdings schon Ende Januar. Ein mit einer kurzen Begrüßungsrede verbundener Antrittsbesuch bei der so herzlichen wie amüsanten Abschiedsmatinee für den scheidenden Archivdirektor Wolfgang Trautwein. Fast 30 Jahre hatte der die Archivalien des wichtigsten interdisziplinären modernen Archivs im deutschen Sprachraum gepflegt und vermehrt.

Dagmar Manzel sang. Ulrich Matthes las. Und der Gewürdigte selbst sprach die denkwürdigen Sätze, dass er dem Archiv sein Lebensglück verdanke: „Ich bekam ja mit dem Archiv des Komponisten Werner Richard Heymann auch seine Tochter zur Frau geschenkt.“ Doll. Glaubt man ja gar nicht, dass das delikate Geschäft des mit einem Künstler oder seiner Familie um dessen Nachlass Verhandelns, auch zarte Liebesbande knüpft. Da rede noch einer vom staubigen Archivwesen.

Birgit Jooss lacht. „Dass Archivarbeit ein dröges Geschäft ist, denkt sowieso niemand, der sich damit beschäftigt.“ Die 1965 in Darmstadt geborene Direktorin hat auf ihr mit einer Promotion abgeschlossenes Kunstgeschichtsstudium später das der Diplom-Archivarin gesattelt und acht Jahre lang das Deutsche Kunstarchiv im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg geleitet.

Unmöglich, sich hier zurechtzufinden

Nun steht sie gemeinsam mit Stellvertreter Werner Heegewaldt im Depotgebäude am Robert-Koch-Platz in Mitte. Unmöglich, sich hier allein blind zurechtzufinden. In dem für die Akademie der Künste der DDR errichteten Plattenbau aus den Achtzigern drängeln sich Bibliothek, Benutzerservice und auf neun Magazingeschossen Fotos, Briefe, Akten, Plakate, Grafiken, Pläne, audiovisuelle Medien und und und. Genauer gesagt die Archive Bildende Kunst, Musik, Literatur, Darstellende Kunst, Film und das Historische Archiv der seit 1696 existenten und nach der nachkriegsbedingten Teilung 1993 wiedervereinten Institution.

Die hier, in der Dependance Luisenstraße, in Außenmagazinen und den Gedenkstätten von Bertolt Brecht und Anna Seghers gelagerten Bestände umfassen satte 12 000 Regalmeter. Allein die Fotosammlung beläuft sich auf 1,2 Millionen Stück. Träger des Archivs ist der Bund.

Erster Eindruck bei der treppauf, treppab und immer wieder durch schwere Stahltüren führenden Tour durchs Labyrinth: Von der Romantik alter Holzregale und schweinslederner Folianten gibt es in diesem modernen Archivzweckbau keine Spur. Die Magazingeschosse sind niedrig, kaum höher als zwei Meter. Damit auch das oberste Regal mit der Hand zu erreichen ist, erklären die Archivare. Jeder Raum verfügt über Rollregale, eine Stickstoff-Löschanlage und das für Papierlagerung günstige Klima von 50 Prozent Luftfeuchtigkeit und 18 bis 20 Grad Temperatur.

Die sogenannte Notaufnahme

Und was ist das da? „Quarantäneraum“ steht an der Tür. Da kämen die in konservatorisch bedenklichem Zustand übernommenen, etwa mit Schimmelpilzen behafteten Einzelarchive rein. Manchmal müsse so was auch ganz schnell gehen, sagt Birgit Jooss. Etwa, wenn eine Wohnung aufgelöst wird. Die sogenannte Notaufnahme. „Wir sichten das Material vor Ort auf die Schnelle, bevor wir es dann hier in Ruhe bewerten.“ Sicher. Auch die hehre Hinterlassenschaft von Dichtern oder Malern fällt erst mal in die schnöde Organisierkategorie „letzte Dinge“.

Nur ein paar Meter weiter – im Musikarchiv – kommt trotzdem Schatzkammer-Nimbus auf. Allein die Namensschildchen, die an den Regalen kleben! Hanns Eisler, Ralph Benatzky, Werner Richard Heymann. In säurefreien Mappen ruhen ihre Briefe, ihre Partituren. Und im Dokumente aus 300 Jahren versammelnden Historischen Archiv lagern auch kurios anmutende Preziosen wie die güldene Amtskette des Präsidenten der Preußischen Akademie der Künste. Von Wilhelm II. 1896 zum 200-jährigen Bestehen gestiftet. Apropos Kuriositäten. „Wir haben auch Tucholskys Pistole“, sagt Werner Heegewaldt. Im Tresor der Kunstsammlung in der Luisenstraße.

Im Lesesaal, der anders als die Magazine Fenster hat, sitzen Frauen und Männer über Folianten gebeugt oder suchen was am Rechner. Zehn von 1920 Besuchern, die hier vergangenes Jahr gezählt wurden. Siebzig Prozent sind Wissenschaftler. Die Archivnutzung ist kostenlos, eine Anmeldung nötig. Schon der Blick in die im Vorraum aufgereihten, sogenannten Findbücher zu einzelnen Persönlichkeiten, die es auch digital gibt, weckt Entdeckungslust. Ach, der Schauspieler O.E. Hasse hat also Post von Leni Riefenstahl, Laurence Olivier und Admiral Canaris bekommen?

Winzig und auf einem Werbeblock: Walter Benjamins Handschrift.

Noch größer werden die Augen in einem schlichten Besprechungsraum. Da hat Birgit Jooss Paradestücke aus zehn Archivabteilungen heraussuchen und auf Tischen ausbreiten lassen. Von Baukunst bis Theaterdokumentation. Komisch-originelle choreografische Skizzen von Mary Wigman, eine der wenigen Zeichnungen von Thomas Mann, „Arbeitskurven“ von Käthe Kollwitz, eine Fotopostkarte von John Heartfield an Otto Dix, Romy Schneiders Fotoalbum des tödlich verunglückten Sohnes, Notizen von Stefan Zweig, Brecht, Piscator, Pechstein, Kertész. Jedes Stück erzählt tausend Geschichten, ist ein intimes Dokument der Zeit, des Denkens, Fühlens, Schaffens.

Nur herausgesucht sind sie nicht, wie Birgit Jooss’ Einführung in das Vokabular ihrer Zunft ergibt. Archivare suchen nicht, sie heben aus. Sie legen nicht zurück, sondern sie reponieren. Sie vernichten nicht, sie kassieren. Sie lagern nicht, sie überliefern. Immer geplagt von der ewigen Frage: was ist überlieferungswürdig? Manche Akten sind mit dieser Zeitangabe versehen: „Aufzubewahren bis: ständig“. Werner Heegewaldt lacht. Deswegen nennt er Vorlässe, also die Übernahme eines Archivs zu Lebzeiten des Künstlers, auch „Anwartschaft auf die Ewigkeit“.

Auf die übrigens kein Akademiemitglied automatisch Anspruch hat, auch wenn das Archiv deren Nähe in der Hoffnung auf interessante Schenkungen sucht. Im Gegenzug können Künstler und Erben auf eine konservatorisch sichere, öffentlich zugängliche Aufbewahrung und die Mehrung des Nachruhms durch Ausstellungen oder Buchpublikationen setzen. Für die Überlieferungswürdigkeit ausschlaggebend sei immer das Dokument selber, sagt Direktorin Jooss. Ein großer Name, über die das Akademiearchiv von Christa Wolf bis Christoph Schlingensief reichlich verfügt, bedeutet nicht unbedingt eine aussagekräftige Sammlung. Wohingegen jemand aus der dritten Reihe vielleicht wunderbare Tagebücher oder Korrespondenzen geführt habe, die die Zeit illustrieren und Querverbindungen zu anderen archivierten Künstlern schaffen.

Die Horizonterweiterung, der interdisziplinäre Ansatz

Sich Sammlungen gegenseitig wegzuschnappen, ist unüblich unter Kulturarchiven, auch wenn durchaus ein sportlicher Wettkampf mit dem Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz oder dem Literaturarchiv Marbach besteht, wie Birgit Jooss beim Verlassen des Hauses am Robert-Koch-Platz erzählt.

Sie residiert nur fünf Minuten Fußweg über den Charité-Campus entfernt. In einem kleinen Altbaubüro in der Luisenstraße. Zusammen mit der Kunstsammlung und dem Walter-Benjamin-Archiv. Noch bis zum Frühjahr 2016, dann folgt der Umzug in das Akademie-Gebäude am Pariser Platz. Was sie als Ex-Chefin eines bedeutenden Kunstarchivs dazu bewogen hat, ausgerechnet eins zu übernehmen, das einen literarischen Schwerpunkt hat? Jooss muss nicht groß überlegen. „Die Horizonterweiterung, der interdisziplinäre Ansatz.“

Um die Faszination zu verstehen, reicht ein letztes bisschen Stiege steigen und Archivalien ansehen. Soll man lachen? Weinen? Beim Betrachten von Walter Benjamins 1935 in winziger Schrift gekritzeltem Text „Was ist Aura?“ aus „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ bleibt das Herz stehen. Schreibpapier des armen, exilierten Philosophen ist ein banaler San-Pellegrino-Werbeblock! Erhebend und zwiespältig zugleich ist es, in der Kunstsammlung ein 1932 in New York gefülltes Skizzenheft von George Grosz durchzublättern. Leuchtreklamen, Messerwerfer, Amüsierbuden – Straßenszenen aus Coney Island. 1933 ging auch er ins Exil.

Respektvolle Ordnung des Archivs

Namen, Zeitläufe, Kunstwerke, Alltagsdinge, die respektvolle Ordnung des Archivs bringt nachträglich Struktur, Trost, ja Poesie in die unordentliche Welt. Das Erkunden könnte ewig weitergehen. Die Direktorin allerdings hat Termine, hat Aufgaben. Die Fortführung der digitalen Aufbereitung der Bestände ist eine davon. „Was nicht im Netz ist, ist für jüngere Generationen nicht existent.“ Jüngstes Vorzeigeprojekt: In der zweiten Jahreshälfte werden 3000 „Preußenakten“ aus dem Historischen Archiv online gehen.

Der Vorgänger war Jahrzehnte im Amt. Welche Verweildauer plant Birgit Jooss? Sie lächelt sybillinisch. „Ein Archiv und seine Posten sind auf Dauer angelegt.“

Mehr zum Archiv der Akademie der Künste unter: www.adk.de

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