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© dpa

Argentinien: Die singende Nation

Wagner im Stadion von Buenos Aires: Daniel Barenboim und die Staatskapelle in Argentinien.

Da fliegt man um den halben Erdball unters große Kreuz des Südens – und schaut unverhofft der eigenen Zukunft ins Gesicht, sagen wir so ab 2010. Im Luna Park Stadion von Buenos Aires finden normalerweise Boxkämpfe, Viehschauen oder Popkonzerte statt. Ein bisschen wie die Arena Treptow, nur mit mehr Coca-ColaReklame, in der Pause werden Hotdogs verkauft, die Verstärkeranlage kracht, die Klappstühle sind durchgewetzt. Das Staatsfernsehen überträgt live, auf der Bühne sitzt die Berliner Staatskapelle und spielt sich unter einem gelösten Daniel Barenboim die Seele aus dem Leib: Wagners „Meistersinger“-Vorspiel sowie Vorspiel und Liebestod aus „Tristan“, anschließend Mahlers Fünfte.

Wie elektrisiert werfen sich die 4500 Menschen in jedes Raunen, jeden von letzten Dingen kündenden Schlussakkord hinein. Völlig um die kollektive Fassung geschehen ist es, als Barenboim die Zugabe ansagt – nicht ohne seinem Sendungsbewusstsein Rechnung zu tragen. Alle, die Verantwortlichen wie die Nichtverantwortlichen, die Politiker wie die Kulturinteressierten, müssten nun jede Anstrengung unternehmen, damit das ruhmreiche Teatro Colón in zwei Jahren wieder eröffnet wird. Das Colón, ein Stück argentinische Seele und Sehnsucht, Buenos Aires’ nobelster Leuchtturm.

Eleganter kann man nicht formulieren, dass die 14-Millionen-Stadt sich seit Jahrzehnten von der Korruption buchstäblich auffressen lässt. „In diesem Land funktioniert gar nichts“, brüllt es von der Tribüne und noch Wüsteres, Unflätigeres. 2008 wird das Colón 100 Jahre alt, eigentlich sollte Barenboim beim festlichen Jubiläum nach der dringend nötigen Restaurierung dirigieren. Bis heute aber ist das Haus eine Baustelle, Masterpläne werden geschmiedet und postwendend wieder verworfen, Intendanten wechseln wie die zuständigen oder auch nicht zuständigen Politiker, von den bewilligten Geldern erreichen bestenfalls 70 Prozent Ort und Zweck ihrer Bestimmung, ein einziges himmelschreiendes Chaos. Die Nationalhymne „Oid! Mortales“ scheint um all das zu wissen. „Mögen die Lorbeeren ewig währen,/ die wir zu erringen wussten./ Mögen wir gekrönt in Herrlichkeit leben/ Oder mögen wir schwören, glorreich zu sterben“, singen 4500 Kehlen, intonationssicher und textfest übrigens, Tränen fließen. Lorbeeren, mahnt Barenboim, seien nichts für die Ewigkeit, man müsse sie sich immer wieder neu verdienen.

Ein Gleichnis für Berlin, die Renovierung der Staatsoper und den Streit um die Saalgestaltung? Zwischen Schiller-Theater und Luna Park liegen gewiss Welten, überhaupt ist es komplett unvorstellbar, dass der Generalmusikdirektor der Lindenoper in einer auch nur halbwegs vergleichbaren Krisen- und Verschleppungssituation den Verantwortlichen derart ins Gewissen redete; noch undenkbarer, dass das Berliner Opernvolk daraufhin zur Stärkung der Moral das Deutschlandlied anstimmt. In Deutschland ist man Deutscher und scheut sich vor derlei Bekenntnissen; in Argentinien ist man Katholik, Jude oder Moslem, Italiener, Syrer, Russe und eben auch Argentinier – eine junge Nation, die der Welt zeigen könnte, wie das Miteinanderleben geht. Und die einen wie Horacio Sanguinetti zum Operndirektor am Colón kürte, bloß weil er ein paar Jahre lang eine Eliteschule geleitet hat und nebenbei eine musikliebhaberische Radiosendung moderiert.

Er sei zuversichtlich, sagt Barenboim am nächsten Tag bei einer Baustellenbegehung, dass das Schiller-Theater 2010 mindestens so flexibel sein wird wie die Lindenoper im jetzigen Zustand. Eine Akustikprobe im Ausweichquartier, so der Maestro, mache erst Sinn, wenn die baulichen Maßnahmen abgeschlossen seien, namentlich die Vergrößerung des Orchestergrabens. Und wenn man dann feststellt, dass es nicht klingt? Barenboim möchte an der Bismarckstraße alles spielen, vom „Ring“ bis zur Uraufführung, und er macht den Eindruck , als würde allein sein Wille dafür sorgen, dass es klappt. Sieben heiß umjubelte lateinamerikanische Konzerte (zuvor gastierte man in Sao Paulo), mit Bruckners Siebter, Achter und Neunter im Teatro Coliseo in Buenos Aires, einem alten Kino mit haarsträubender Akustik: ein treffliches Aphrodisiakum nach den jüngsten Querelen, für alle.

Auch unter den Musikern wird heftig diskutiert. Hat sich der Denkmalschutz auf Knobelsdorff oder auf Paulick zu beziehen? Wollen Verfechter einer modernen Architektur nur die letzten Verdienste der ehemaligen DDR ausradieren? Und wer garantiert, dass man mit aufgestocktem vierten Rang tatsächlich mehr sieht und hört? Im internationalen Akustik-Ranking belegt das Teatro Colón als Opernhaus den ersten Platz, als Konzertsaal den dritten. Für Konzerte hatte die Musikstadt Buenos Aires nie etwas anderes. Das soll sich nun ändern: Die alte Hauptpost könnte sich eignen, internationale Experten wurden deshalb eingeflogen. Darunter auch Georg Vierthaler, der Ex-Geschäftsführende der Staatsoper, der so in den Genuss einer letzten Reise mit seinen ehemaligen Kollegen kam.

Wer weiß, vielleicht steht die Welt 2010 ja endgültig Kopf. Während das Schiller-Theater floppt und die Staatsoper sich hinzieht, erstrahlt das Colón in frischem altem Glanz – und empfängt die heimatlosen Lindenmusiker mit offenen Armen. Es wäre nicht das erste Mal.

Christine Lemke-Matwey

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