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Kultur: Arkadien in der Gummizelle

„Tristan“, pneumatisch: Stefan Bachmann und Daniel Barenboim eröffnen die Festtage an der Berliner Lindenoper

Gegen Ende geschieht Merkwürdiges. Oben verbeugen sich die Sänger, Bravi, Blitzlichter, Aufatmen nach zwei glücklichen Rollendebüts und sechs Stunden Wagner – da wächst mitten aus dem Graben Daniel Barenboim empor. In Zeitlupe, wie ein kleiner Albatros. Steigt hoch und höher, prangt schließlich, der Hydraulik sei’s gedankt, vor dem Saal, Stuhl, Dirigentenpult, Staatskapelle inklusive. Anders, aha, wäre des Hauses Sitte diesmal nicht einzulösen gewesen, dass das Orchester sich beim Applaus stets in voller Größe zeigen darf. Auf der Bühne nämlich ist dafür kein Jota Platz. Schon Tristan und Isolde, diese beiden, haben Mühe, sich nicht permanent auf den liebeskranken Zehen herumzutreten.

Nun sollte man sich, was die stararchitektonischen Bühnenbildner des Abends angeht, Jacques Herzog und Pierre de Meuron, keine Illusionen machen. Die finalen Buhs für Barenboim haben die Schweizer so wenig antizipieren können wie die Tatsache, dass Peter Seiffert alles andere als ein begnadeter Darsteller ist (und in einer so heiklen Partie wie dem Tristan wohl kaum zu einem solchen reifen würde!). Die klaustrophobische Enge, der schmale, stickige Streifen, der den Protagonisten zum (Nicht-)Spiel bleibt, der superspitzfindige Technik-Hype samt Druckkammer und Vakuumpumpe – dies alles gehorcht ästhetischen Parametern, die sich letztlich selbst gebären und genügen. Eine Musik, Menschen, ein Opernhaus braucht dieses hochelaborierte Hüllenprinzip nicht. Wagners „Tristan“, der Paukenschlag der Moderne, in einer Wabe der Münchner Allianz-Arena, nächtens von der A9 aus betrachtet ...

Natürlich ist es spektakulös, wenn Operndilettanten vom Schlag Herzog /de Meuron der Welt ihren Musiktheatererstling präsentieren – die Lindenoper jedenfalls bleibt so ihrem mit Dörrie, Eichinger & Co. entwickelten Hang treu, sich von Quereinsteigern frische Impulse zu erhoffen. Entsprechend liest sich die Programmheft-Prosa: Vom „Erscheinen des Auftauchens“ und „Verschwindens“ ist da die Rede, von „halluzinatorischen Wirkungen“ – und davon, dass das Duo Bühnenbilder aus der Hand anderer (!) Architekten bislang stets „grässlich“ fand (wohl von Botta über Libeskind bis Zaha Hadid). Hoppla, jetzt endlich kommen wir?

Der eigene Ertrag indes gestaltet sich, wie soll man sagen, hochtrabend kümmerlich. Ein Schiffsrumpf für den ersten Akt, Halle und Treppe für den zweiten, eine Grotte für den dritten, das Ganze in extremem Breitwandformat, mal halbtransparent, mal blickdicht illuminiert. Der Trick: Richtig zu erkennen ist hier nichts – außer den Sängern, die wie die Figuren eines platt gedrückten Wetterhäuschens meist von links nach rechts wandeln, schleichen, stolzieren. Selbstvergessen, in aufreizender Langsamkeit. Die Männer mit trollartigen Langhaarperücken, Isolde, die „irische Maid“, im Brautkleid à la Käthe Kruse und mit einem Haarkranz, auf den selbst die schöne Julia Timoschenko neidisch sein dürfte (Kostüme Annabelle Witt). Und keine Berührungen, kaum ein direkter Blick.

Sehr viel mehr ist zu Stefan Bachmanns Regie-Redlichkeit auch nicht zu sagen. Nach dem Liebestrank quillt Tristan und Isolde Blut aus den Mundwinkeln, die Liebesnacht besiegeln sie in gefrierschrankeisiger Bläue mit – symbolisch – aufgeritzten Pulsadern (beide übrigens singen nicht „So stürben wir,/ um ungetrennt,/ ewig einig,/ ohne End‘“, sondern „So starben wir ...“!). Und überhaupt ist alles nur ein böser schöner Traum Tristans. Zum Schluss weckt ein mit Engelsflügeln angetaner Hirte (bemerkenswert: Florian Hoffmann) die an der Rampe aufgereihten Toten wieder auf (darunter Roman Trekels lyrisch-grämlichen Kurwenal und Reiner Goldbergs geifernden Melot), die arkadischpsychedelische Stimmung erlischt, zurück im Gummizellenarbeitslicht bleibt der schlafende Held. Das kennt die Wagnerwelt seit Götz Friedrichs Senta.

Wie die Hüllen und Häute und Ummäntelungen der vielfach preisgekrönten Herzog/de-Meuron-Bauten ihr Inneres oft kunstreich verschweigen, um die Ganzheit, den Körper, das Volumen eines Organismus zu betonen, so will dieser „Tristan“ sein Äußeres verschweigen, jede Konkretion, alles weltliche Verhaftetsein. Eine Gummimembran nebst besagtem Vakuumverfahren sorgt dafür, dass sich Schiffsrumpf, Treppe oder Grotte jeweils unmerklich, kaum mehr als reliefartig ins Geschehen hineindrücken. Mit etwas geschmäcklerischem Licht (Andreas Fuchs) erinnert der zweite Akt also an geschmolzene weiße Schokolade, soll Isoldes Liebestod wohl tunnelartige, vorgeburtliche Traumata simulieren.

Als Konzept, als Recherche klingt dies interessant. Sonderlich theatralisch und „Tristan“-affin oder -spezifisch ist es nicht. Denn die Membran bleibt die Membran – und dass sie platzen könnte, Ungeheuerliches preisgeben, ist nichts als ein sehnsüchtiger Gedanke. Kaum hat man also das Prinzip durchschaut, beginnen die Augen zu ermüden. Tröstlich, dass die vielfach stolpernden, Halt suchenden Sänger sich akustisch sicher aufgehoben wissen dürfen. Dieser Raum funktioniert wie eine Schuhschachtel, davon profitiert nicht nur Michelle DeYoungs sehr hell gestimmte, bei aller Akkuratesse wenig Mezzoglut verströmende Brangäne. Auch René Pape als Marke darf seinen sonoren Bass an der langen Leine spazieren führen. Wen kümmert’s, wenn da dem Wohllaut fast jeder Schmerz geopfert wird.

Die beiden Debütanten schließlich leisten Beachtliches. Wobei die Stärken von Katarina Dalaymans Isolde klar im Lyrischen liegen: in der Schwerterzählung des ersten Aktes, wenn ihr betörend flirrendes, nordisches Soprantimbre sich vollends eindunkelt, in der Nacht der Nächte, wenn sie alle Hitze nach innen nimmt, Spitzentöne nur mehr haucht, stöhnt, einsaugt. Mit den hochdramatischen Ausbrüchen indes tut sie sich (noch) schwer, da wirkte vieles aufgesetzt und, gegen Ende, auch ein wenig ausgefranst. Peter Seiffert als Tristan hingegen vollbringt das Wunder, sich von Akt zu Akt zu steigern. Vorerst mag nicht er mit der Partie spielen, sondern die Partie (noch) mit ihm, und so mancher heldentenoraler Höhe, etlichen verschatteten Vokalen und rauen Tonansätzen hört man wohl an, wie viel Sängerwille hier dahintersteckt. Die Kondition aber, mit der er den dritten Akt bewältigt und wie sich hier bisweilen sogar etwas vom typisch Seiffert’schen Legatoglanz einstellt, das verdient Respekt.

Und Daniel Barenboim? Dirigiert mit plumpsenden Akzenten ein Vorspiel, dem jede Metaphysik, alles Leben bereits entwichen scheint, schlägt sich dann überraschend doch auf die Seite der Leidenschaft, mit herrlichen Bläserfarben eingangs des zweiten Aktes und großstadtlärmverdächtigen Crescendi in der Zuspitzung der Katastrophe, um fast irre, ja apokalyptisch zu enden. Dynamisch tut er sich und dem Haus wenig Zwang an, was einigen prompt wenig gefiel. Klappern gehört zum Handwerk, heißt es. Ein bisschen mehr hätte man allerdings schon erfahren wollen, an diesem hohen Abend, über die Kunst.

Christine Lemke-Matwey

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