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Kultur: Aschengold

Ein Dramolett für alle / Von Peter von Becker.

Mai 2013. Eine offene Bühne.

DER INTENDANT DER FESTSPIELE: So! Ja! Ja! So, so? Nein, so! So ja ja!

(Der Intendant schlägt eine elegante Brücke zwischen seinem Theaterhaus an der Schaperstraße und dem Tempelhofer Flugfeld.)

DIE TEXTFLÄCHE (betritt die Brücke von Westen): Kein Gott mehr, keine Diva, kein Komet, hier tanzt die Antigegenwart, Supernova, die Nachgeburt der Ungeborenen. Elektras Schein. Android. She fucks the universe. Fuckushima. Hey, du da, Sie da! Jedermann, Allerleifrau! Ein Spiel, ein Mordsspiel, ein Mörderspiel, Mösenmassenmörderspiel, was sonst, ihr Odysseuse, ihr Spanner, Achillessehnenspanner, der Müll der Antike stinkt Lichtjahre hoch in den offenen Himmelswillen, aus den blutigen schwarzen Löchern kriecht das Urpathos und zerfließt wie alles Männliche in der Frau und hängt in der Luft, mehr Luft, Freiluftkino, alle wollen zum Film und machen Theater, Luftspiele, im Anfang war der Kalauer, dann kam die Komödie des Untergangs, sagt Sam B., der letzte Masseur. Kleinhirngymnastik, Cortexküste, Tsunami, graue Masse, graue Eminenz, das verkommene Subjekt, Neuronentod, Elfriede meiner Seele –

DER GEIST DES REGIETHEATERS: Super, alles super. Aber wir brauchen eine Videoleinwand. Die vierte Wand! Damit verhüllen wir Berlin. Unter der Brücke, alles unter der Brücke. Das ist unser Flash, Luftbrücke zwischen Theater und Leben, das trifft, ein Gedankenbilderflug, mit achtzehntausend Kameras, live, das Theater ist immer live! Und wir machen das Verhüllte sichtbar, wir zeigen hinterm vordergründigen Text das unsichtbar Verborgene. Total groovy den Oberflächenuntergrund.

CHOR DER ZUSCHAUER: Wir sehen alles! Wir sind das soziale Netzwerk!

DIE DRAMATURGIE (im T-Shirt mit der Aufschrift „Verlass mich nie!“): Das enthüllte Verhüllte, genau. Foucault, Christo, die Cloud. Alles durchleuchten, und der gläserne Mensch ist auch nur eine trübe Tasse. (Kichert)

DER GEIST DES REGIETHEATERS: Was …, welcher Mensch? Es geht nicht um den Menschen, es geht um uns!

EIN ALTER SCHAUSPIELER: Und wo setze ich an, ich meine: ein?

DIE TEXTFLÄCHE murmelt etwas, sehr laut und sehr leise.

DIE REQUISITE: Wir haben nur zwölftausend Kameras.

DER GEIST DES REGIETHEATERS: Nur zwölf ... – beim Theatertreffen? Ja bin ich hier noch in Gießen oder wie oder was?!

DER GROSSKRITIKER notiert in seinen Spiralblock: „Ich hör’ ein Rauschen.“ Er zieht eine Mohrrübe aus der Sakkotasche und köpft die Rübe.

EINE JUNGE SCHAUSPIELERIN: Ich meine schon, das greift unsere Situation, irgendwie schon, aber –

CHOR DER ZUSCHAUER (skandiert): Uns graut der Morgen, uns mordet das Grauen, uns graut der Morgen, uns modert das Schauen …

SHAKESPEARES SCHATTEN betritt die große Brücke von Osten, zitiert etwas wie Heiner Müller, unverständlich, auch er murmelt, laut und leise.

ZWEITE JUNGE SCHAUSPIELERIN: Ich bin die Zukunft. (Bläst einen Handkuss hinüber zur Textfläche, lacht) Genau. Gestern stand ich noch mit dem Theater am Abgrund, heute trete ich zurück. Und das Theater geht weiter. (Lacht, lacht Tränen)

SHAKESPEARES SCHATTEN / DER GEIST DER TEXTFLÄCHE kommen sich auf der Brücke entgegen, von Osten und Westen. Fast haben beide die Brückenmitte erreicht.

DIE NACKTE JURY (durcheinanderredend): Innovation! Innovation! Innovation! Das hatten wir schon! Das hatten wir –

DIE TEXTFLÄCHE feuert mit einer Pumpgun auf Shakespeares Schatten. Ein zweiminütiges Feuerwerk.

SHAKESPEARES SCHATTEN: Aaaah!!!

(Er kippt von der Brücke und fliegt als schwarzer Engel hinüber zum Festspielhaus an der Schaperstraße, lässt aus der Höhe goldene Asche regnen.)

DER GROSSKRITIKER (lässt seinen Spiralblock sinken, schier unhörbar): Breth sein ist alles…

Eine kleine Stille.

Im Garten um das Festspielhaus wachsen goldene Palmen.

DER INTENDANT DER BERLINALE (schaut vorbei und stutzt): Alles Theater!

DER INTENDANT DER FESTSPIELE (strahlt vor Glück): Getroffen.

Es ertönen fünfzig Glockenschläge.

Kein Vorhang.

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