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Kultur: „Atanaaarjuaat!“

Spielfilm-Entdeckung vom Polarkreis: „Die Legende vom schnellen Läufer“ erzählt eine archaische Legende der Liebe

Atanarjuat: Klingt nicht gerade eingängig, das Wort. Erstaunlich aber, wie gut man sich einhört in knapp drei Stunden Kino, zwischen Amaqjuaq, Atuat, Panikpaq, Quiltalik – und wie sie sonst alle heißen, diese Eisunheiligen, diese Sommerlichtgestalten aus dem grönländisch hohen Nordosten Kanadas. Atanarjuat also – kräftig zu betonen auf dem dritten A und mit einem J, so sanft wie in Journal – ist der Held des gleichnamigen Films, Bruder von Amaqjuaq, der zu Tode kommt in einer hellen Sommernacht, weshalb Atanarjuat fliehen muss mit nichts am Leib als dem buchstäblich nackten Leben. Und dann kommt der herzzerreißende Moment, in dem Atuat „Atanarjuat!“ ruft, „Atanaaarjuaat!“ – Und man beugt sich vor im Kinosessel und sieht die Frau sich losreißen aus einer Sippe und auf ihren Mann zulaufen und merkt gar nicht, dass man ihn gerade für immer in seinem Gedächtnis eingespeist hat, diesen seltsamen Namen.

So ist der Film: sehr fremd erst einmal, und sehr langsam. Sollten Sie noch irgendwas Nennenswertes vorhaben an dem Tag, an dem Sie „Atanarjuat“ sehen wollen: Verlegen Sie „Atanarjuat“. Oder das Nennenswerte. Denn nach „Atanarjuat“, der einen so ins Ferne verführt, ist alles plötzlich weit. Ja, nach „Atanarjuat“ darf man schon mal die nächste Zukunft oder zumindest die übernächste U-Bahn verpassen.

„Atanarjuat“ spielt um 1000 nach Christus. Obwohl: Christus ist, wo Götter und Zauber und Nomadenstämme herrschen, ein nur bedingt tauglicher Begriff. Die Männer und die Frauen und die Kinder stecken in Seehundfellen mit gewaltigen Kapuzen, in die mindestens ein Säugling passt; sie fahren mit Schlitten tagelang übers Eis, und die Hunde rollen sich zusammen auf einen Menschenlaut hin wie eine Schlafherde, japsendes Weiß. Und Iglus bauen sie, in deren Innern die Männer um die Frauen kämpfen, indem sie im Duell einander den Schädel zu zertrümmern suchen; und sommers schlafen sie in Zelten und streiten sich in Zelten und lieben sich in Zelten. Ein Jahrhunderteleben am Weltrand, und sehr weit draußen lebt es sich auch heute noch so.

Die Geschichte ist eine Legende – und Legenden sind, wenn sie tausend Jahre her sind, eindeutig wirklich passiert. Atanarjuat gewinnt die Liebe von Atuat, die aber Oki versprochen ist, der nicht verwinden kann, dass er Atuat an Atanarjuat verliert, weshalb er eines Tages mit zwei Komplizen aufbricht, um Atanarjuat und seinen Bruder, den bereits erwähnten Amaqjuaq ... aber das ist es ja nicht allein. Es sind das Licht und die Stille und die Blicke, die Art, wie sie das rohe Fleisch vom Knochen ziehen und verzehren, es sind die bloßen Füße über dem Eis. Wer Schuhe hat, bestimmt das Geschehen, und er kann seinen Vorteil, so lehrt die Legende, für das Gute und für das Böse nutzen.

Der Rest sind Informationen. Dass „Atanarjuat“ der erste kanadische Spielfilm ist, der von Inuit – das ist das Volk, das so schöne Namen für seine Bewohner hat – geschrieben, produziert, inszeniert und verkörpert wurde. Dass Drehbuchautor Paul Apaq Angilirq das weltweit erste Drehbuch in Inuktitut geschrieben hat, und schon haben wir zumindest den Namen der Sprache der Inuit gelernt. Dass Regisseur Zacharias Kunuk 1957 als Sohn von Nomaden in der arktischen Tundra geboren wurde, die Familie sich aber bald in Igloolik niederließ, wo er die Igloolik Isuma Productions Inc. gründete und auch heute noch lebt. Dass einige Darsteller richtige Schauspieler sind, Natar Ungalaaq etwa, der den Atanarjuat spielt, oder dass Atuat im richtigen Leben Sylvia Ivalu heißt und als Sekretärin in der Verwaltung von Igloolik arbeitet. Aber wollen wir wissen, dass Atuat mit einem Computer umgehen kann?

Also zurück, aufs Eis, unter den Himmel. Zurück zu den Jägern. Zu den Gejagten. Zurück in die archaische Wärme, die dieser Film in seinen Zuschauern entzündet, trotz allem. Wegen allem.

Ab Donnerstag im Eiszeit (OmU), Filmkunst 66, International und Neuen Off .

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