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Ein bisschen bunt, ein bisschen alt, ein bisschen Baum. Das Athener Stadtviertel Metaxourgeios erinnert auch an ein Berlin, das just vergeht.

© flickr/Christos Loufopoulos

Athen als Ort für die Avantgarde: Ein schwabenfreies New York der 80er

Ein bisschen erinnert es an das New York der frühen 80er, oder jenes Berlin, das gerade vergeht: Wer sich in den Athener Stadtvierteln Kerameikos und Metaxourgeio herumtreibt, findet eine Welt, die nicht zuletzt durch die Krise Chancen für ein anderes Leben bietet.

Unweit des Hotel Stanley am Karaiskaki Square in Athen gibt es zwei sich aneinanderschmiegende Stadtviertel, Kerameikos und Metaxourgeio, die mich in eine ganz unerwartete Euphorie stürzten und auf die Idee brachten, allen jungen Künstlern Europas zu empfehlen, dorthin zu ziehen, denn hier gibt es alles das noch, was es sonst nirgends mehr gibt, nämlich Raum und Zeit.

Es ist das erste Mal seit Jahrzehnten, dass ich mich in einer Stadt an das New York der frühen 80er Jahre erinnert fühlte, wo SoHo (South of Houston) eine zusammenkrachende Rag-Trade-Area war, in der immer mehr Raum frei wurde für die riesigen Ateliers, aus denen die heute unbezahlbaren (aber leider inzwischen auch von allen guten Geistern verlassenen) Lofts hervorgingen. Die gusseisernen kannelierten Säulen mit den verrückten Fantasie-Kapitellen unterstützten dramatisch die weitläufige Leere der Ateliers, die den Künstlern für die damals so geschätzten großen Formate als ideal galt. Max Frisch wohnte um die Ecke in der Prince Street, Patti Smith schwebte blass durch die Greene Street, oder der Wahlberliner David Bowie streunte mit Iggy Pop durch die mit Punk parfümierte Dämmerung. So gut wie kein Maler der Neuen Wilden, ob aus Köln oder aus Berlin, der hier nicht regelmäßig einflog.

Zwischen Ruinen entsteht etwas Neues

Hier nun, in diesem Quartier Athens, in dem der große Theodoros Terzopoulos sein Theater betreibt, zwischen Ruinen, wuchernden China Towns und den verschlossenen Perlen einer fast vergessenen Architektur: kleinen, ein- bis zweistöckigen Häusern mit klassizistischen Fassaden und Palmetten tragenden Stirnziegeln, fand unlängst die Kunstmesse Remap Athens statt, eine auf zahlreiche Ausstellungsorte verteilte Präsentation zeitgenössischer Kunst. Zwischen den Ruinen, wo sich Mini-Bordell an Mini-Bordell reiht, orthodoxe Kirchen mit glühend lastenden Ikonostasen sich dazwischen zwängen und Stadthäuser mit Orangen beschatteten Patios, flackert überall jener Stil auf, der in seiner Folge Berlin inzwischen so flächendeckend in den Abgrund der Immobilienspekulation gerissen hat, dass man um seine Zukunft als Magnet für die internationale Jugend fürchten muss.

Junge Leute mit schmalen, eckigen Brillen und gewissenlosen Frisuren eröffnen die einschlägigen Cafés, Modeläden und Szeneclubs. Man kann förmlich zusehen, wie zuletzt im Reuterkiez zwischen Kreuzberg und Neukölln, wie es täglich mehr werden. Aber natürlich sind es nicht diese jungen Leute, und erst recht nicht die Künstler, die für die Beseitigung der pulsierenden Stadtwildnis verantwortlich sind, im Gegenteil, es sind die, die ihnen immer sofort auf den Fersen sind, ich nenne sie jetzt mal „die Schwaben dieser Welt“. Sie kommen und kaufen und spekulieren und ersticken das sprudelnde Leben, das sie anlockte, im Keim. Ihre Sterilität tötet alles. Sie verwandeln die Straßen in Prunksärge und die Lebensmittelläden in Urnen für das Unnotwendige. Das abschreckende Beispiel Manhattans stünde einem ja vor Augen, um gegen eine solche Entwicklung endlich einzuschreiten und damit das größte Kapital einer Stadt zu erhalten, ihren (Welt-)Ruf.

In Thomas Manns Erzählung „Mario und der Zauberer“ heißt es zur Flüchtigkeit des Genius loci: „Die Welt, man kennt das, sucht ihn und vertreibt ihn, indem sie sich in lächerlicher Sehnsucht auf ihn stürzt, wähnend, sie könnte sich mit ihm vermählen, und wo sie ist, da könnte er sein; ja, wenn sie an seiner Stelle schon ihren Jahrmarkt aufgeschlagen hat, ist sie imstande zu glauben, er sei noch da.“

Das Bleibende und das Kommende sind ebenbürtig

Ein bisschen bunt, ein bisschen alt, ein bisschen Baum. Das Athener Stadtviertel Metaxourgeios erinnert auch an ein Berlin, das just vergeht.
Ein bisschen bunt, ein bisschen alt, ein bisschen Baum. Das Athener Stadtviertel Metaxourgeios erinnert auch an ein Berlin, das just vergeht.

© flickr/Christos Loufopoulos

Noch ist Athen aber sowohl durch die Krise als auch durch die Mentalität vor der Vernichtung geschützt. Hier stehen sich das Bleibende und das Kommende noch ziemlich ebenbürtig gegenüber und der Nachschub an industriellem Raum ist durch die vielen Pleiten der letzten Jahre schier unerschöpflich. Trotz der bedrückenden und demütigenden Wirtschaftslage ist bei den jungen Leuten wieder Optimismus und Selbstbewusstsein spürbar, viel Wille zu einem guten Stil und der Antrieb zum Anschluss an die besten internationalen Standards.

Was die beiden Viertel Kerameikos und Metaxourgeio für Urbanologen und Feldforscher so aufregend macht, ist, dass hier alt und neu, ramponiert und restauriert, bewohnt und verfallen, geschäftig und still sich so aneinanderreihen, dass man die Stadt, was einem sonst kaum noch irgendwo widerfährt, als einen Organismus wahrnimmt. Einen an Lebenszeiten gebundenen Organismus.

Die räumliche Tiefe des städtischen Raums, die man sonst nur über die großen Ringe oder Achsenstraßen wahrnimmt, zeigt sich in diesen Brüchen und Lücken. Die Stadt wird so für den Blick fast holografisch begehbar. Die Übergänge sind fließend, auch die zwischen innen und außen. Außerdem ist hier, wie man einst über New York, aber auch Berlin sagte, die Schere noch weit offen, sozial wie phänomenal.

Zwar handelt es sich um eine überwiegend elende Wohngegend, mit Migranten aus Ägypten, Pakistan, dem Kaukasus, dem Balkan und jenen, die sich nach dem Zusammenbruch des Sowjetreiches vom trügerischen Anschein eines griechischen Wirtschaftswunders anlocken ließen. Aber es gibt auch bereits kühne Betonkonglomerate neuen Stils, wo die Miete teuer ist und die Freude an diesem Material hart erkämpft, ebenso wie geschmeidigere Beispiele junger Architektur, die dem mediterranen Lebenswillen der Griechen eher gerecht werden.

Geblieben von der betrogenen Hoffnung der Zugereisten sind die Garküchen und Basare, das Gemisch aus harmlosen Halunken und nicht immer harmlosen Kleinkriminellen, Streunern, Touristen, Pionieren und Trendschnüfflern. Doch man flaniert unbehelligt unter Orangenbäumen und Salzzedern, findet erstaunlich gute Tavernen und blütendurchrauschte Plätze von unirdischer „Schwebsamkeit“ und kommt, je länger man geht, immer mehr zu sich selbst.

Hier, wo baum- und geschäftslos die Jasonosstraße quert, waren gerade noch die Athener mit dem grünen Plan des Remap-Athens-Festivals unterwegs, ultrahocherhitzt von der Athener Sonne, in der Mädchen ihre Venen und ihre Hoffnung dem Heroin opfern und ein Junkie immerfort nach Xenophon ruft.

Aber Xenophon antwortet nicht.

Der Dichter Gerhard Falkner, geboren 1952, lebt in Berlin und Weigendorf. Im Verlag Kookbooks erschienen zuletzt seine „Pergamon Poems“.

Gerhard Falkner

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