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Kultur: Auf Balkonen kann man wohnen

Uraufführung in Dresden: Wolfgang Engel inszeniert „Der Turm“ nach dem Roman von Uwe Tellkamp

Sieben Jahre. Sieben Jahre voller Wünsche, Sehnsucht und Verrat, Verheißungen und Verheerungen. Ein kleines Land taumelt dem Ende entgegen, reißt Menschen in Abgründe. Und doch ist der Untergang Bedingung eines neuen Anfangs. Uwe Tellkamps Roman „Der Turm“, angesiedelt in einer Ausnahmewelt, dem Villenviertel Weißer Hirsch in Dresden, erzählt tausend und eine Geschichte über die quälenden letzten Jahre der DDR, von Dezember 1982 bis November 1989. Mit geradezu besessener Genauigkeit werden Straßen, Häuser, Gärten erfasst, es stimmt alles, jeder Zaun, jedes Fenster, jede Verzierung sind untadelig, überprüfbar bis ins kleinste Detail aus der Realität geholt. Dann aber, auf dieser fotografischen Basis, verwandelt sich alles, beginnt zu fließen, zu schweben, zu tanzen. Tellkamp nutzt das Wirkliche für einen Taumel der Fantasie. Dichter, Wissenschaftler, Ärzte, Verleger bevölkern den Weißen Hirsch des Romans, bildungssatt, den schönen Künsten oder strenger Wissenschaft hingegeben – und den Bedingungen eines Staates ausgeliefert, der seine Macht rücksichtslos gebraucht. Es singt und klingt in den bröckelnden Villen, aber es gibt kein Entrinnen vor dem rigorosen Anspruch der Partei und des Staates, dieses anspruchsvolle Leben zu bestimmen, zu überwachen. Die trotzige Behauptung bürgerlicher Hochkultur ist mit mannigfaltiger Gefahr verbunden.

Tellkamp lässt den selbstverliebten Anspruch der Gebildeten auf das Besondere, Höhere mit der so anderen Welt der Herrschenden zusammenstoßen. Dort geht es allein um die ideologische Verwertbarkeit auch der geistigen Güter. Und so hebeln Verführung, Manipulation, Erpressung, Bespitzelung Träume und Überzeugungen aus, verbiegen und zerstören Biografien. In der „Geschichte aus einem versunkenen Land“ wirft der Erzähler Schicksale über Schicksale in den Mahlstrom der Geschichte, verwoben mit Anspielungen und Verweisen quer durch die deutsche Erzählkultur.

Kann ein solches episches Riesenwerk mit seinen fast tausend Seiten für die Bühne transformiert werden? Ohne strenge Skelettierung von Figuren und Geschichten ist da nichts auszurichten. Das geduldig beschriebene Wachsen und Gedeihen einer Lebensform im gesellschaftlichen Sonderbereich muss draußen bleiben – nur einzelne Schicksale aus dem Reich trotzig behaupteter Bürgerlichkeit können ins körperliche Leben geholt werden. Jens Groß und Armin Petras, die Autoren der Theaterfassung, haben dieses Mögliche geleistet, mehr nicht.

Aber sie schufen szenische Anregungen, die in Dresden klug genutzt werden. Auf der Bühne (Olaf Altmann) stapeln sich in drei Höhen Spielpodeste übereinander. Eine bestimmte Örtlichkeit gibt es nicht, dafür eine zwanghafte Gemeinsamkeit aller Spieler. Man lebt zusammen, streitet, man beobachtet, lauscht, klettert durch die Stockwerke, verlässt den „Turm“ und ist plötzlich wieder da. Regisseur Wolfgang Engel treibt ein nahezu pausenloses Spiel unruhig voran, setzt entfesselte körperliche Aktion gegen beklemmende Pausen. Der Dialog gleicht einem Bällezuwerfen, von links nach rechts, die stählerne Konstruktion mit ihren Treppen und Geländern wird zur Existenzform. Aber gerade durch die Raffinesse aller Bewegungsabläufe bleiben die Menschen auf der Bühne seltsam fremd. Ihre Schicksale fügen sich nicht, das Fragmentarische, auch Zufällige obsiegt.

Am ehesten verfolgbar wird der Weg des jungen Medizinersohnes Christian Hoffmann von der Lust jugendlicher Anfänge bis zur opportunistischen Resignation. Benjamin Pauquet zeigt das allmähliche Zerriebenwerden von Neugier und Spontaneität bewegend und zurückhaltend sachlich zugleich. Das Ensemble, mehr als zwei Dutzend Rollen sind zu verkörpern, muss aus dem Stand heraus Figuren finden und behaupten. Auf den Balkonen werden Verbindungen geknüpft und gelöst. Mit beeindruckender Genauigkeit läuft das ab, der Zuschauer ist gefordert, „seine“ Geschichten herauszufinden. Er muss noch einmal über „sieben Brücken“ gehen (das Lied stützt musikalische Einsprengsel zum Bühnengeschehen), um den Schicksalen folgen zu können. Engel und das Ensemble liefern Baumaterial, eine Zusammenfügung, eine Ausmalung unterbleibt. Christoph Funke

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