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Kultur: Auf dem Kreuzzug? Am Kreuzweg!

Sechs Monate liegt der 11. September zurück.

Sechs Monate liegt der 11. September zurück. Zwei Lichtsäulen werden am Montag den Platz in New York markieren, an dem die Türme des World Trade Center standen. Nach einem halben Jahr ist es Zeit für eine Zwischenbilanz. Stimmt es, dass nichts mehr so ist, wie es vorher war? Oder stimmt die gegenteilige Behauptung: "Nach dem 11. September ist alles wie vorher?"

Ereignisse zählen umso mehr, je näher sie uns rücken. Auch wenn wir uns gegen Nationalismus wehren, berührt es uns unmittelbarer, wenn Menschen aus dem eigenen Land beteiligt sind. Die Erschütterung über die Opfer der Terroranschläge - darunter auch Menschen aus Deutschland - hatte hierzulande die allermeisten Menschen ergriffen. Wochen später wühlte die Entscheidung, deutsche Soldaten für den Kampf gegen den Terror bereitzustellen, viele auf. Nun erreicht die Trauer um tote Soldaten unser Land; Mit größerem Nachdruck wird nun nach den Zielen gefragt werden, die sich vertreten lassen, und nach den Mitteln, die zu rechtfertigen sind. Der Versuch, Raketen zu entschärfen, hat zwei deutschen Soldaten den Tod gebracht. Spätestens jetzt kann man die Augen nicht mehr davor verschließen, wie lebensgefährlich es sein kann, wenn man den Konflikt entschärfen will, für den der 11. September steht. Doch diese Aufgabe wird inzwischen bereits von dem Vorhaben überlagert, nicht zu entschärfen, sondern zuzuspitzen. Folgt man den Ankündigungen von Präsident Bush, dann will er nicht nur Militär als äußerstes Mittel einsetzen, um die terroristische Gewalt einzudämmen. Er will vielmehr mit militärischer Gewalt eine vermeintliche neue Ordnung schaffen. Was als Kampf gegen den internationalen Terrorismus begann, ist längst mehr als nur ein äußerstes Mittel, eine ultima ratio.

Zum Thema Dokumentation: Kampf gegen Terror Fotos: Osama Bin Laden, Krieg in Afghanistan Das Neue an den Ereignissen, denen wir den Namen "11. September" gegeben haben, besteht in dem Ausmaß, in dem privatisierte Gewalt die Verhältnisse verändert. Hier haben nicht Staaten gegeneinander einen Krieg begonnen. Hier haben auch nicht Parteiungen, die demselben Staatswesen angehören, in einem Bürgerkrieg um die Macht gerungen. Privatleute haben eine groß angelegte Gewalttat gegen das mächtigste Gemeinwesen der Welt verübt. Demonstrativer kann man das staatliche Gewaltmonopol nicht missachten. Dieses Gewaltmonopol aber ist das entscheidende Kennzeichen für den neuzeitlichen Staat. Er allein ist berechtigt, physische Gewalt einzusetzen. Die Regeln, an die er dabei gebunden ist, bilden ein Kernelement jeder Rechtsordnung. Immer wieder wurde dieses Monopol in Frage gestellt - im Kleinen wie im Großen. Auf der einen Seite wurde im Namen von Recht und Gerechtigkeit versucht, eine illegitim gewordene staatliche Herrschaft mit dem äußersten Mittel des gewaltsamen Widerstands zu stürzen - meistens ohne Erfolg, wie für Deutschland der 20. Juli 1944 lehrt. Am äußersten Ende des Spektrums liegt der gegenläufige Versuch, legitime staatliche Herrschaft durch gewaltsamen Terror auszuhebeln. Auf dem Altar politischer Ideologien oder blanken Hasses wurden Menschenleben geopfert. Die Verführung ist groß, das erhöhte Sicherheitsbedürfnis, das sich aus solchen Terrorakten ergibt, auf Kosten der Freiheit zu befriedigen. Warnend steht Benjamin Franklins Einsicht dagegen, nach welcher der, der die Sicherheit durch Preisgabe der Freiheit gewährleisten will, beide zerstört.

Neu ist, dass privatisierte Gewalt, auf erhebliche Wirtschaftsmacht gestützt und mit den modernsten technischen Mitteln ausgestattet, das wirtschaftliche und militärische Nervenzentrum der einzig verbliebenen Weltmacht zu treffen vermag. Über den tausendfachen Mord und die unmittelbare Zerstörung hinaus war dies von erheblicher symbolischer Bedeutung. Es war eine "Kriegserklärung" nicht nur an das staatliche Gewaltmonopol, sondern auch an die Lebensform, das politische System und die wirtschaftliche Stärke der USA, aber indirekt auch Europas. Es war nicht nur ein Angriff auf den weltpolitischen Einfluss der großen Wirtschaftsmächte; es war zugleich eine Attacke auf jede Vorstellung von der Unantastbarkeit menschlichen Lebens. Vollzogen wurde diese Attacke auf gotteslästerliche Weise, nämlich unter Berufung auf den Gottesnamen. Dieser Angriff war nicht nur genau geplant, sondern auch präzise kalkuliert. Er gefährdete nicht nur die persönliche Sicherheit Einzelner; er riss Tausende in den Tod. Er erschütterte nicht nur die Ordnung einer Gesellschaft; man fragte sich, ob jemand, der zu allem entschlossen ist, die einzige Weltmacht, ja vielleicht die globale Ordnung selbst in den Abgrund zu reißen vermag. Die Flammenschrift apokalyptischer Möglichkeiten erschien an der Wand.

Ich staune darüber, wie viele das angeblich schon lange hatten kommen sehen; denn gesprochen hatten sie darüber nicht. Gewiss wächst innerhalb der südlichen Hemisphäre im Schatten der "Globalisierung" die Aversion gegen die westliche Lebensform und insbesondere gegen die USA als stärkste Wirtschafts- und Militärmacht der Welt. Die Attentäter konnten deshalb eine positive Resonanz bei den aufbegehrenden Massen vor allem in islamischen Ländern einkalkulieren. So kam es auch, selbst wenn sich manche angeblichen Belege dafür als Fälschung erwiesen. Aber weit reichen die Schlüsse nicht, die man hieraus ziehen kann. Denn der Anschein eines zwangsläufigen Zusammenhangs zwischen globaler Ungerechtigkeit und internationalem Terrorismus ist inakzeptabel. Die These, weltweite wirtschaftliche Ungerechtigkeit entlade sich mit innerer Folgerichtigkeit in Terroraktionen dieser Art, ist nicht mehr als eine sehr spezielle Form von Geschichtsfatalismus. Noch fataler ist der Umkehrschluss. Denn die Erwartung, man brauche sich vor solchen Ausbrüchen privatisierter Gewalt nicht mehr zu fürchten, wenn man erst einmal die Gerechtigkeit in der Welt zum Sieg geführt habe, wäre wirklich naiv. Das abgründig Böse, das uns in den Taten des 11. September entgegengetreten ist, schlägt keineswegs nur dort Wurzeln, wo Menschen unter dem Druck wirtschaftlicher Ungerechtigkeit einen Hass aufgestaut haben, der sich in der Zustimmung zu solchen Gewalttaten entladen kann. Man muss vielmehr feststellen, dass zu dieser Art von hochtechnisierter und kommerziell unterfütterter Gewalt nur fähig ist, wer von wirtschaftlicher Ungerechtigkeit seinerseits profitiert, Osama bin Laden gehört zu dieser Art von Profiteuren; daher die Millionen, mit denen er den Terror finanziert. Wenn man von seinen Verbindungen zu politisch und wirtschaftlich einflussreichen Kreisen in den USA liest, reibt man sich erstaunt die Augen.

Irgendwie hängt alles mit allem zusammen. Trotzdem haben zwei Aufgaben je ihre eigene Dringlichkeit. Es geht zum einen darum, gewaltsamen Terror zu verhindern und das Recht auch gegen internationalen Terrorismus durchzusetzen. Es geht zum anderen darum, weltwirtschaftliche Verhältnisse zu fördern, die vor dem Maßstab von Gerechtigkeit und Menschenwürde einigermaßen bestehen können. Wer nur das eine oder das andere sieht, ist auf einem Auge blind.

Pazifismus gegen Polizeimaßnahmen?

Die Privatisierung der Gewalt bringt die Kategorien von Krieg und Frieden durcheinander; Erhard Eppler hat darauf schon vor dem 11. September aufmerksam gemacht. Mit einem Krieg, der durch Friedensschluss beendet werden kann, haben viele Formen heutiger Gewaltausübung nichts zu tun. Auch Gegenmaßnahmen geraten in eine eigentümliche Zwitterstellung zwischen polizeilichen und militärischen Maßnahmen. Mit ihnen soll Kriminalität bekämpft werden. Das ist eine polizeiliche Aufgabe; doch es geschieht mit militärischen Mitteln.

Wo die Unterscheidung von Krieg und Frieden, von Polizei und Militär nicht mehr greift, hat es auch der Pazifismus schwer. Das Aufbegehren gegen die militärischen Aktionen der USA ist begreiflich; der Tod unbeteiligter Zivilisten, oder die Bombardierung ganzer Dörfer sind nicht zu akzeptieren. Aber schon die Rede von dem "Krieg in Afghanistan" unterstellt eine Klarheit, die so nicht besteht. Mit der Zustimmung der jetzigen Regierung von Afghanistan wird nach den Schlupflöchern der Terroristen gesucht. Dass es als Erfolg ausgegeben wird, wenn fünfhundert Rebellen getötet wurden, ist erschreckend. Denn für Recht und Menschlichkeit ist es eine bittere Niederlage, dass sie nicht lebend festgenommen wurden. Mit Menschenwürde und Menschlichkeit hat es nichts zu tun, wenn wir den Tod deutscher Soldaten beklagen und über den Tod afghanischer Al-Qaida-Kämpfer triumphieren.

In wachsendem Maß werden alte Denkmuster bemüht, um zu deuten, was wir in den letzten sechs Monaten erlebt haben und was vielleicht vor uns steht. Die Lehre vom "gerechten Krieg" ist ein solches altes Denkmuster. In den USA wird es immer wieder mit erstaunlicher Unbefangenheit in Anspruch genommen. Anfang 1991 habe ich selbst erlebt, wie im Plenum der nordamerikanischen "Society for Christian Ethics" debattiert wurde, ob der unmittelbar bevorstehende Golfkrieg ein gerechter Krieg sein werde oder nicht. Durch Mehrheitsabstimmung erhielt George Bush Senior das grüne Licht der versammelten christlichen Ethiker für die "Aktion Wüstensturm". Nun, elf Jahre später, wiederholt sich das Spiel. Nicht ein Kongress christlicher Ethiker, sondern eine Schar von Intellektuellen bemüht erneut die Lehre vom "gerechten Krieg". Das Spektrum der 58 Geistesgrößen, die sich in dieser Erklärung zusammengefunden haben, ist breit. Mit den 53 deutschen Intellektuellen, die zu Beginn des Ersten Weltkriegs einfach die deutsche Kriegsbereitschaft zu stärken suchten, lassen sie sich nicht vergleichen. Aber zu ihnen gehören auch diejenigen, die ein "Ende der Geschichte" diagnostizieren, wenn es kein klares Feindbild mehr gibt, oder einen neuen "Kampf der Kulturen" proklamieren, nachdem der alte Kampf der Ideologien der Geschichte angehört. Alle miteinander bemühen sie in einer Zeit der privatisierten Gewalt eine Denkform aus den Zeiten des fraglos geltenden staatlichen Gewaltmonopols. Der Widerspruch, der dagegen angezeigt ist, gilt nicht dem Bemühen, auch kriegerische Gewalt der Herrschaft des Rechts zu unterwerfen und nach den moralischen Maßstäben zu fragen, die auch im Kriegsfall gelten sollen. Insoweit wird man auf entscheidende Kriterien aus der Tradition des "gerechten Kriegs" immer wieder zurückgreifen. Dazu gehört vor allem die Pflicht, alles Erdenkliche zu tun, um den Frieden zu ermöglichen, die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu wahren, die Zivilbevölkerung zu schonen. Vor allem gehört dazu die Überzeugung, dass kriegerische Gewalt nur als äußerstes Mittel in Frage kommt. Widerspruch ist deshalb nötig, wenn durch den Begriff des "gerechten Kriegs" das Scheitern verdeckt wird, das jeder tötenden Gewaltsamkeit zu Grunde liegt. Widerspruch ist nötig, wenn durch die Kriegsterminologie verschleiert wird, dass eigentlich polizeiliche Maßnahmen nötig sind, wenn Privatleute widerrechtlich Gewalt ausüben. Vielleicht gegen den Willen mancher Unterzeichner verwandelt sich die Rede vom "gerechten Krieg" zu einem Freibrief für viel weiter reichende Pläne.

Der amerikanische Präsident George Bush Junior hat solche Pläne auch schon angekündigt. Er ist schon in die Fußstapfen seines Vaters getreten, der seinerzeit eine neue Weltordnung proklamierte, der er durch die Bomben des Golfkriegs näherkommen wollte. Jetzt weicht die multilaterale Allianz gegen den Terrorismus einer einseitigen Aktion zur Neuordnung der politischen Verhältnisse zwischen dem arabischen Raum und der koreanischen Halbinsel. Nicht globale Kooperation, sondern "American Preponderance", also das einseitige Übergewicht der USA, ist nach Zbigniew Brzezinski das Gebot der Stunde. Ein Kriegskonzept wird entwickelt, das über die Abwendung terroristischer Gefährdungen weit hinausgeht. Krieg tritt nicht nur als äußerstes Mittel der Gefahrenabwehr, sondern als Instrument großräumiger politischer Gestaltung in den Blick. Die Rhetorik der Konfrontation und die Mentalität des Kreuzzugs werden dafür bemüht. Von einer "Achse des Bösen" spricht George Bush, wie Ronald Reagan vor zwanzig Jahren von einem "Reich des Bösen" gesprochen hat. Wer so redet, weiß, wo das fraglos Gute zu finden ist. Dafür kann der Präsident sich auf die 58 Intellektuellen nicht berufen. Sie haben wenigstens noch vor der "Arroganz und Ignoranz" amerikanischer Politik gewarnt. Sie haben durchschaut, dass westliche Überheblichkeit leicht dazu beitragen kann, die Probleme dieses Globus unlösbar zu machen.

Sechs Monate nach dem 11. September ist es an der Zeit, wieder an die großen Aufgaben zu erinnern, denen die internationale Politik genügen soll. Die Verfolgung eigener Interessen und der Respekt vor Würde und Selbstachtung der anderen muss in eine neue Balance kommen. Kooperationsstrukturen müssen entstehen, die dem Frieden dienen. Gerechtigkeit darf auch in den internationalen Beziehungen nicht zu einem Wort verkommen, das bloß verlacht wird. Wer jedoch auf das Lebensrecht und die Gerechtigkeitshoffnungen anderer eingehen will, muss sie zu verstehen versuchen. Die kulturelle Dimension heutiger Auseinandersetzungen verdient mehr Aufmerksamkeit. Die Religionen haben dazu ihren Beitrag zu leisten. Wechselseitige Wahrnehmung der Religionen ist heute ein unaufgebbarer Friedensbeitrag.

Klarheit zwischen Konfessionen

Mit interreligiöser Schummelei kann das nichts zu tun haben. Vielmehr ist die Bereitschaft zu kritischer Auseinandersetzung gerade für die Vertreter von Glaubensgemeinschaften unverzichtbar, die es doch immerhin mit der Wahrheit zu tun haben wollen. Zur Wahrheitspflicht gehört der Hinweis, dass politische Macht und religiöse Autorität voneinander unterschieden werden müssen - gerade auch um der Würde der Religion willen. Zur Wahrheitspflicht gehört der Streit um das Menschenbild und die Unantastbarkeit der Menschenrechte. In diesen Fragen sprechen Christentum und Islam noch keineswegs mit einer Stimme; kein Projekt Weltethos und keine Islamcharta kann uns darüber hinwegtäuschen. Die entscheidende Wegstrecke zur Gemeinsamkeit der Religionen liegt vielmehr noch vor uns.

Die Religionen müssen vor allem lernen, sich gemeinsam dagegen zu wehren, dass sie immer wieder zum Instrument und politischen Absichten dienstbar gemacht werden. Das geschieht dort, wo Religion zur Sprache des politischen Hasses wird. Aber es ist auch dort der Fall, wo die Antwort in der Sprache des Kreuzzugs erfolgt.

Der Autor: Wolfgang Huber war Theologieprofessor u

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