zum Hauptinhalt

Kultur: Auf der grünen Wiese

Surreal: Tino Sehgal beim Tanz im August.

Von Sandra Luzina

Die Kunst von Tino Sehgal ist flüchtig und immateriell. Etwas wird aber die Aufführungen beim Tanz im August überdauern: der grüne Rasen, der extra für ihn vor dem HAU2 gepflanzt wurde. Hier drängelt sich am Dienstagabend das Publikum, will einen echten Sehgal sehen – und erlebt, wie die Grenzen zwischen Kunst und Stadt zerfließen. „Twenty Minutes for the Twentieth Century“ ist die Neuinszenierung einer frühen Arbeit von 2000, in der Sehgal ikonische Tanzstile zitiert. Heute realisiert er seine Arbeiten nur noch in Museen, aber dieses Stück hat er noch für die Bühne konzipiert und damals auch selbst getanzt – und zwar nackt.

Beim Tanz im August sind nun drei Variationen zu sehen, fast schon ein Multiple. Bei Andrew Hardwidge saust ein junger Tänzer verwundert durchs Museum des Tanzes. Wenn er sich in verführerischer Pose seitlich hinlegt, fühlt man sich gleich an Nijinksys Faun erinnert. Sehgal erweist den Großen mit Augenzwinkern Reverenz. Der Streifzug reicht von Balanchine über Cunningham und Trisha Brown bis zu den Avantgardisten Xavier Le Roy und Jérome Bel. Im Zusammenprall der Stile wirkt manches überspannt oder preziös, anderes immer noch radikal.

Mit dem Kontext verändert sich die Wahrnehmung. Der Tanz auf dem verkehrsumbrausten grünen Rasen hat nichts Entrücktes mehr. Radfahrer und Passanten werden zu Mitspielern, ob sie nun angestrengt weggucken oder vom Sattel steigen. In Berlin ruft ein tanzender nackter Mann keinen Tumult hervor. Zu Alltagsgeräuschen und Musik aus vorbeifahrenden Autos wälzt sich Frank Willens durchs Gras, mal expressiv, mal anmutig-steif. Er wirkt zum Greifen nah. Ein ekstatischer Zeitgenosse. Boris Charmatz erweist sich schließlich im HAU 1 als gewitzter Interpret, der die Formsprachen intellektuell durchdrungen hat und nebenbei noch ein paar lässige Witze reißen kann.

Am Ende: Ein ironischer Duchamps- Verweis. Memory-Spiele für Experten. Doch man kann die Tänzer auch einfach als lebende Skulpturen betrachten. Ein augenöffnender Abend – und eine surreale Berlin-Erfahrung. Sandra Luzina

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false