zum Hauptinhalt

Kultur: Auf in den Kampf

Zum Abschluss der 55. Berlinale: Das expandierende Filmfestival hat ein Zukunftsproblem

Mit einer seltsamen Gelassenheit, ja, mit nie da gewesenem Desinteresse hat die internationale Filmwelt der Vergabe der Goldenen Bären zur 55. Berlinale entgegengesehen. Oder, wenn es denn zum Temperament am Ende dieses lauen Jahrgangs noch reichte, allenfalls mit Spott: Welchen möglichst absonderlichen Film würde wohl eine Jury, angeführt von Blockbuster-Konfektionär Roland Emmerich sowie schillernd bereichert vor allem durch die dauerentblätterungslustige Chinesin Bai Ling und den in erster Linie eleganten Modemacher Nino Cerruti, am Ende auf ihren Schild heben? Ein Gremium, das dessen Präsident schon zu Beginn so definiert hatte: Wir sind vielleicht nicht die Schlauesten, aber wir sehen am besten aus?

Nun also hat diese Jury einen Knalleffekt gelandet. Immerhin: Er ist auf der nach oben offenen Kulturrichterskala allenfalls mit der Nobelpreis-Ankündigung 1997 für das italienische Theaterkomödianten-Leichtgewicht Dario Fo zu vergleichen – und sorgt so zumindest kurz für entsprechende Heiterkeit. Denn sie hat nicht nur mit dem Goldenen Bären für „U-Carmen eKhayelitsha“ die ohnehin nicht hohen Erwartungen deutlich unterboten, sondern auch bei den anderen wesentlichen Preisen so ziemlich an jedem allgemein diskutierten stilistisch oder thematisch herausragenden Wettbewerbsfilm vorbeigesehen.

Mark Dornford-Mays südafrikanische Township-Version der „Carmen“-Oper mag vom Konzept her ein verblüffendes akustisch-visuelles Crossover aus alteuropäischer Hochkultur und dem sehr dörflichen Personal des Global Village sein. Wie manche auf dem Papier gut gemeinte Zusammenführung aber wird auch „U-Carmen“ bei der ersten visuell-akustischen Konfrontation auf der Leinwand schnell dröge. Der Film ist zudem nichts weiter als ein für das Kino tot geborener linearer Transpositionsversuch Bizets. Mit anderen Worten: Dem spontanen Stoßseufzer eingeschworener Klassikfans – „Oper gehört auf die Bühne!“ – ist auch seitens der Filmkritik nichts Nennenswertes hinzuzufügen.

Aus deutscher Sicht, allerdings wohl nur aus dieser, wird man sich über die Doppel-Konsens-Entscheidung für das ordentliche Polit-Period-Piece „Sophie Scholl“ freuen können – obwohl bereits bei der Jury-Pressekonferenz fein zwischen Bravos für Julia Jentsch und Buhs für Marc Rothemund unterschieden wurde. Wie man es auch dreht und wendet: Die Jury-Entscheidungen spiegeln durchaus passend eine gründlich verkorkste Berlinale – und lassen deren Absonderlichkeiten in ihrer Summe noch greller erscheinen. Was die Sache auch strukturell problematisch macht: Die meisten dieser Absonderlichkeiten gehen unmittelbar auf das Konto des Berlinale-Chefs Dieter Kosslick.

Nicht nur, dass er diesmal eine Art Buddy-Jury installierte, über deren filmischen Sachverstand man schon festivalintern durchaus unterschiedlicher Meinung war. Auch die Entscheidung für Régis Wargniers thematisch und stilistisch fragwürdigen Kolonialhistorienschinken „Man to Man“ als Eröffnungsfilm ist nach heftigen Debatten im Vorfeld offenbar ziemlich einsam gefallen. Und zudem nicht einmal eine strategische Glanzleistung: Denn was bringt die gesicherte Anwesenheit zweier Stars – Kristin Scott Thomas und Ralph Fiennes –, wenn der so prominent angesetzte Film sogleich bei Kritik und Publikum verbrennt? Kosslick versuchte, sich vom Trauma des Vorjahrs zu heilen, als Jude Law und Nicole Kidman die Berlin-Premiere von „Cold Mountain“ schwänzten. Und bescherte der Berlinale – und sich selbst – vom Start weg gleich ein neues.

Denn die Stars fehlten wie nie auf dieser Berlinale. Welcher Wurm steckt in einem Festival, wenn wichtige Hauptdarsteller von Wettbewerbsfilmen einfach nicht erscheinen? „The Life Aquatic“ ohne Bill Murray, „Les temps qui changent“ ohne Gérard Depardieu, „Hotel Rwanda“ ohne Nick Nolte, „In Good Company“ ohne Scarlett Johansson – die Liste ließe sich fortsetzen. Und wie trist muss man sich weitere Berlinalen denken, in denen indiskutablem Ganzjahresunterdurchschnitt wie „Hitch“ nur deshalb die Ehre des Hauptprogramms zuteil wird, weil sich damit zumindest ein Weltstar wie Will Smith nach Berlin locken lässt? Und: Werden sogar Berlinale-Jurys womöglich auch künftig aus Not bloß nach Star-Potenzial ausgewählt und hochgejazzt – mit Schauspielerinnen, die in Interviews freizügig kundtun, dass sie nie ins Kino gehen?

Gewiss, manche Malaise ist auch in diesem Jahr nicht Dieter Kosslick anzulasten. Am wenigsten das viel beraunte zentrale Strukturproblem: Seit der Vorverlegung der Oscars um einen Monat ist die Berlinale zumindest für die besten Filme der US-Jahresproduktion total uninteressant geworden – schließlich sind die wichtigen Nominierungen bereits gelaufen. Andererseits braucht ein Festival dieser Größenordnung auch Stars dieser Größenordnung – erst recht in einer mediengesteuerten Welt, die sich Inhalten nur noch über die Neugier auf Personen nähert. Da ist es zwar gut gemeint, wenn eine Berliner Zeitung zum Festivalstart mal eben ganz ernsthaft den Vorschlag machte, auf Stars zu verzichten: Dann allerdings wäre auch die Berlinale mir nichts, dir nichts am Ende. Festival ist Leben. Festival ist live. Nicht nur an seinen großartigen Filmen, sondern auch an diesem Live-Faktor wird jedes große Festival gemessen, also muss er auch zu seinem Selbstverständnis gehören.

Der Berlinale-Chef suchte das Dilemma diesmal mit der Brechstange zu lösen, und da wird das Struktur- zum Personalproblem. Kosslick hat, wie berichtet, den in der Wettbewerbsschiene platzierten US-Film „Heights“ nach Drucklegung der Programme wieder ausgeladen – schon das ist ein beispielloser Vorgang. Dass die Absage von Glenn Close dafür den Ausschlag gab, macht die Sache zwar, wenn man sich in die offenbar beträchtliche Verzweiflung der Festivalleitung hineindenkt, verständlich, aber von den Folgen her nur noch schlimmer. Denn ein Festival, das auf dem wichtigen US-Markt derzeit mit seiner eigenen Werbewirksamkeit nicht trumpfen kann, sollte tunlichst nicht auch noch mit den Muskeln spielen. Niemand wird wohl kuschen, weil die Berlinale zum groben Rauswurf neigt, wenn jemand seine Stars nicht mitbringt. Eher werden sich die betroffenen Produktionen künftig sehr genau überlegen, ob sie nach Berlin kommen: Schließlich könnte eine Einladung auch mit einer Ohrfeige enden.

Was sich letztes Jahr andeutete, ist diesmal zur Gewissheit geworden: Dem Festival und auch seinem so munter wahlberlinisch selbstironischen Chef, dem seine Vertragsverlängerung zu wünschen ist, stehen schwierige Zeiten bevor. Hoffen wir, dass da nicht bald auch noch die zumindest finanziell wichtigen Nebenfelder infiziert werden. Immerhin hat Großsponsor VW, der eine Phaeton-Flotte und viel Geld beisteuert, ein böses Gerücht zuletzt gegenüber dem Tagesspiegel als „Blödsinn“ dementiert. Nein, man wolle sich nicht vom Festival zurückziehen, bloß weil die Autos wegen des Star-Mangels nicht wirksam genug in den Medien seien – plausibel genug für ein Nachfragen aber war die Vermutung schon.

Quo vadis, Berlinale? Was tun, wenn Cannes, dem das Festival zuletzt mit großen Schritten immer ebenbürtiger wurde, auch künftig nicht am Nordpol stattfindet und die Oscars nie wieder auf ihren alten Termin gehen? Ein echtes Dilemma. Über einen Start im Januar wird nachgedacht. Kein Problem, wenn wir Weihnachten in den November verlegen. Und den Jahreswechsel noch dazu.

Zur Startseite