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AUF Schlag: Hopp Schwiiz!

Rainer Moritz weiß, wer Europameister wird

Ich bin im Fußballfieber. Am Sonnabend ist es wieder so weit: Mitbürger, die normalerweise zum Lachen in den Keller gehen, zeigen auf offener Straße Gefühle, wenn Odonkor zu Flankenläufen ansetzt und Klose vollstreckt. Autos frischen mit lustig flatternden Deutschland-Fähnchen das Stadtbild von Heilbronn auf, während beim Public Viewing das Dosenbier fließt und sich wildfremde Fans in den Armen liegen. Ich mache alles mit, wie 2006, und weiß bereits, wer Europameister wird. Früher bildete ich mir etwas auf mein Expertenwissen ein, analysierte die Leistungsentwicklung aller kroatischen Verteidiger und gab Tipps allein auf dieser Grundlage ab. Genützt hat mir das nichts, und so habe ich das Verfahren geändert, mit grandiosem Ergebnis: Chancen auf fußballerischen Erfolg haben nur Länder, deren Literatur darbt.

Nehmen Sie die WM 2006. Ins Finale kamen Italien und Frankreich, die auf literarischem Gebiet in den letzten Jahren nicht auffällig wurden. Längst vorbei die Zeiten, als sich Italo Calvino und Marguerite Duras torgefährlich zeigten – und kommen Sie mir nicht mit Houellebecq und Littell. Ganz anders die Skandinavier, die permanent famose Romane produzieren und prompt seit 1992 vergeblich auf einen Titel warten. Chancenlos bleiben auch die Rumänen, denn mit Mircea Cartarescu haben die jetzt einen, der die Weltliteratur aufmischt. Und die Österreicher erst mit all ihren Gstreins, Geigers, Handkes, Jelineks, Menasses und Köhlmeiers.

Bei eingehender Betrachtung scheint es mir ausgemacht, dass die Schweiz den großen Coup landen wird. Denn ohne jemandem nahetreten zu wollen: Zu viel ist es nicht, was die Eidgenossen zuletzt literarisch bewegten. Stamm und Hürlimann allein machen noch keinen Sommer, und der 91-jährige Gerhard Meier kann das Steuer als Einwechselspieler nicht mehr herumreißen. Deshalb schlägt jetzt die Stunde der Freys, Benaglios und Magnins. So wie 1938, als Robert Walser seine Tage in der Heilanstalt zubrachte, Friedrich Glauser starb und die Schweiz das mit einem glanzvollen 4:2-Sieg über „Großdeutschland“ kompensierte. 1954 hingegen, als die Schweizer unter ihrem legendären Trainer Rappan WM-Träume hegten, wurden sie von Max Frischs „Stiller“ kalt erwischt und schieden gegen Österreich aus.

Das alles sind Zusammenhänge, auf die man erst mal kommen muss. So erwarte ich gelassen das Eröffnungsspiel Schweiz gegen Tschechien. Der F.C. Helvetia (eine Dürrenmatt-Wendung) wird das Match für sich entscheiden, aber nur knapp, denn auch Jan Koller wird von der Schwäche der tschechischen Gegenwartsliteratur profitieren.

Rainer Moritz

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