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Kultur: Auf weiter Flur

Roman Widders russophiles Erzähldebüt „Ibissur“.

Osman, ein deutscher Spielzeugbauer mit russischen Wurzeln, gerät in eine persönliche Krise. Über Armenien flieht er ins Land seiner Vorfahren, wo sich zu ihm Tschepucha (russisch für Quatsch) gesellt, ein skurriler Mann mit einer Vorliebe für Volkskunde. Später gabeln die beiden noch ein Mädchen auf. Nastja, wie sie es nennem, hat kaum noch Zähne, nur noch einen Arm und sucht seine Mutter. Gemeinsam reisen die drei zu einer verkommenen Fischfabrik, mit dem Plan, sie wieder aufzubauen, und kommen auf ihrem Weg doch nur mühsam voran.

Roman Widder, 1985 in Heidelberg geboren und heute in Berlin zu Hause, hat russische Literatur studiert, unter anderem im sibirischen Krasnojarsk, aber seine Erzählung „Ibissur“ beutet nicht einfach die eigenen Erfahrungen aus. Widders literarisches Debüt ist ein narratives Gewebe in kunstvollem Zwielicht. Auf knappem Raum entwirft er eine eindringliche Geschichte, ohne die Geschehnisse und ihren Zusammenhang bis ins Letzte aufzuklären.

Für die lokalen Mythen ist Tschepucha eine sprudelnde, aber unzuverlässige Quelle. Er hat zu allem und jedem eine Geschichte parat, meist durchsetzt von Schimpftiraden. Tschepucha, berichtet Osman einmal, behaupte, „wir würden uns die ganze Zeit überfressen, weil ich aus Europa zu viel Geld mitgebracht habe, deswegen kämen wir letztlich kaum zum Nachdenken, kämen vor lauter Fressen nicht zur Besinnung und im Übrigen auf unserem Weg nicht voran“. Er scheint immer weniger bei sich zu sein, was vielleicht mit seiner Kopfverletzung zu tun hat.

„Ibissur“ versammelt viele kleine Geschichten. Sie helfen Widder, eine suggestive Balance von Lethargie und Bewegung zu halten. So treffen die drei auf eine alte Frau, die gerade aus ihrem Haus vertrieben werden soll. Ein andermal gelangen sie durch ein Loch im Zaun in eine Militärstadt, die keinen Namen, sondern nur noch eine Nummer hat. Der Sprachrhythmus passt wunderbar zum Fluss der Geschehnisse; und die Perspektiven wechseln so beständig, dass man die Reise ins Ungewisse plastisch miterlebt. Der Raum, den Widder mit „Ibissur“ eröffnet, schafft ein besseres Gefühl für Russland als so manches ethnogeografische Sachbuch. Daniel Jurjew

Roman Widder:

Ibissur. Erzählung. Diaphanes Verlag,

Berlin 2013.

139 Seiten, 14,95 €.

Daniel Jurjew

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