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Kultur: Aufbruch aus der Depression

Diese erste Oktoberwoche war eine denkwürdige in den USA. Während sich die Nation in einer tagelangen, alle Generationen, Klassen und politischen Lager umfassenden Trauerfeier von Apple-Gründer Steve Jobs verabschiedete, wurde in den Medien eine neue Bewegung begrüßt, die bisher einen Namen, aber keine Sprecher hat: „Occupy Wall Street“.

Diese erste Oktoberwoche war eine denkwürdige in den USA. Während sich die Nation in einer tagelangen, alle Generationen, Klassen und politischen Lager umfassenden Trauerfeier von Apple-Gründer Steve Jobs verabschiedete, wurde in den Medien eine neue Bewegung begrüßt, die bisher einen Namen, aber keine Sprecher hat: „Occupy Wall Street“. Die Nachrufe auf Steve Jobs beschworen das Genie eines Mannes, der wie kein anderer auch das Genie der USA verkörperte: das kreative, selbstbewusste, in die Zukunft blickende Amerika, in dem zwei 20-Jährige in einer Garage die Basis für die digitale Revolution legen. Gleichzeitig war zu spüren, dass Amerika von einer Epoche Abschied nimmt, deren Optimismus und Unbekümmertheit heute fast unbegreiflich erscheinen.

Von der Bewegung „Occupy Wall Street“, die am 17. September mit ein paar hundert Pionieren begann, nahmen die Medien zunächst keine Notiz. Die Republikaner fanden die jungen Leute, die in einem Park in der Nähe der abgeriegelten Festung Wall Street Position bezogen, „unseriös“, der New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg warnte vor einer Spaltung der Stadt, selbst der unabhängige Radiosender NPR brauchte neun Tage, bis er einen Reporter zu den Demonstranten schickte. Für ältere Ohren wie meine klang vieles, was das Establishment zu den Protesten sagte, wie eine Konserve aus den sechziger Jahren.

Aber plötzlich, seit dem vergangenen Wochenende, hat die junge Bewegung die Medien erobert. Wie in den sechziger Jahren haben dazu vor allem zwei Faktoren beigetragen: der kalkulierte Regelbruch durch die Besetzung der Brooklyn-Brücke und die martialische Reaktion der Polizei, die 700 Demonstranten festnahm.

Am wichtigsten aber ist wohl der Umstand, dass der kollektive Zorn seit gut zwei Jahren schwelt und von der Obama-Regierung ignoriert wurde. Inzwischen haben die Anti-Wall-Street-Aktivisten in 45 Staaten der USA Nachahmer gefunden. Zwei Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften, Paul Krugman und Joseph Stiglitz, haben Hilfe angeboten, 33 Prozent der Amerikaner bekunden in Umfragen ihre Sympathie. Selbst Präsident Obama, der seine Worte aus Sorge, missverstanden zu werden, so sorgfältig wählt, dass ihn fast niemand mehr versteht, äußerte Verständnis für die weit verbreitete „Frustration“, die in dem Protest zum Ausdruck komme. Strategen der demokratischen Partei träumen von einem liberalen Gegenstück zur Tea-Party-Bewegung, die ihrer Partei im Wahlkampf nützen könnte.

Davon kann zurzeit noch keine Rede sein. Zu diffus ist der Protest, zu groß das Misstrauen in das Establishment. Dennoch könnte durch die Proteste von den in jedem Wortsinn tief depressiven USA ein neues Signal der Hoffnung ausgehen. Angesichts von Regierungen, die nur noch als hilflose Feuerlöscher der Brände funktionieren, die entfesselte Spekulanten legen, erklären Bürger aus der Welthauptstadt der Finanzbranche: Wir sind die 99 Prozent, deren Zukunft ihr verwettet, und wir schauen nicht mehr zu.

Peter Schneider lebt als Schriftsteller in Berlin. Er schreibt an dieser Stelle regelmäßig über Kultur und Politik.

Peter Schneider denkt bei den Wall-Street-Protesten an die Sechziger

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