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Kultur: Aufbruch nach Utopia oder zurück zu Glanz und Gloria? Eine kritische Zwischenbilanz des Umbauprozesses

Man kann die modernen Metropolen als Dschungel betrachten. Es ist dann eine Frage der Interpretation: Dient die Urwaldmetapher der Verfremdung der Wirklichkeit, um ihr Wesen besser zu erkennen?

Man kann die modernen Metropolen als Dschungel betrachten. Es ist dann eine Frage der Interpretation: Dient die Urwaldmetapher der Verfremdung der Wirklichkeit, um ihr Wesen besser zu erkennen? Oder ist der Dschungel archaische Gegenwelt zum Großstadtalltag? So sehr sich für manch einen in Berlin der Eindruck einer wilden Mischung aufdrängt, so stark wird anderen an einer so kunstvollen wie geistreichen Bewältigung des Phänomens gelegen sein. Schließlich stellt das "Neue Berlin" einen schwer fassbaren, mitunter von monströsen Anklängen nicht ganz freien Kosmos dar.

In diesem Dschungel suchen die Berliner Festspiele und die Architektenkammer gemeinsam nach einer Lichtung. Sozusagen als Momentaufnahme der Gegenwart, erklärten sie Berlin für 20 Monate zur "offenen Stadt" und gaben begleitend eine instruktive Aufsatzsammlung heraus. Die Motive, Strukturen, Intentionen, doch auch die Defizite dieses Umbauprozesses anschaulich zu machen, das ist der Anspruch des Buches. Zehn Autoren versuchen in thematischen Essays jeweils ein Resümee zu ziehen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit - und sich des Problems bewusst, dass die Veränderungen, soweit sie baulich manifest wurden, nicht immer deckungsgleich sind mit den kulturellen, sozialen und ökonomischen Veränderungen. Berlin gilt als das Laboratorium für kulturelle Spekulation und zugleich als der Ort in Deutschland, an dem die gesellschaftliche Modernisierung sich am sichtbarsten niederschlägt. Es gibt natürlich auch viele, die das nicht so positiv formulieren würden. Übereinstimmung wird man in der Frage nach dem, was Berlin sein soll, kaum finden. Klar ist nur, dass "Berlin während der letzten zehn Jahre in einen Dauergalopp der architektonischen und städtebaulichen Veränderung versetzt" wurde.

Acht der vorliegenden Aufsätze widmen sich zwar sehr umfassenden, aber noch greifbaren Themen wie Wohnen, Kultur, Dienstleistung, Stadttechnik oder Verkehr. Bernhard Schneider und Johannes Leithäuser hingegen bewegen sich in einem Terrain, in dem eher das Erleben zählt: dieser als Flaneur, der seinen Blick auf die Metamorphosen richtet, jener, indem er über den Status des öffentlichen Raums befindet.

Für Tilmann Buddensieg, der sich kritisch mit dem "Gesicht der Erinnerung" befasst, hat Berlin die Chance, die europäische Metropole des nächsten Jahrhunderts zu werden, "weil nur in Berlin nicht alles historisch besetzt und unantastbar ist, sondern Leerraum für urbanes Handeln, für architektonischen Gebrauch und baukünstlerisches Schaffen existiert". Indes, hinter dem, was an Zukunftsweisendem und Visionärem da vermeintlich entsteht, lugt allzu oft nur die Sehnsucht nach altem Glanz und Gloria hervor. Der Verweis auf die Geschichte ist insofern recht zweischneidig: "Wenn Berlin sich in der Fiktion seiner eigenen, nur bruchstückhaften Vergangenheit sucht wie Narziss im Spiegel des Wassers, wenn Berlin also nur zurück will, dann verspielt es die Chance einer hoffnungsvollen Werkstatt des 21. Jahrhunderts."

Die neue Identität Berlins muss auf einer umfassenden "Wiedervereinigung" beruhen. Diese wiederum ist nicht nur eine gesellschaftliche und administrative Aufgabe, sie bedarf auch einer erkennbar zusammengehörigen gesamtstädtischen Struktur. Großflächige Kriegszerstörungen, die langjährige Teilung, unterscheiden Berlin von anderen Großstädten. Das Wort von der Mauer in den Köpfen, die noch weit verbreitete Scheu, die jeweils andere Stadthälfte in die eigenen Lebensgewohnheiten einzubeziehen, sind Ausdruck für die Schwierigkeiten des Zusammenwachsens. Es könne jedoch gut sein, so Gerwin Zohlen, "dass es das eigentliche Erbe dieses sonderbaren, eingekreisten, isolierten, banalisierten und geteilten Berlins der Nachkriegszeit gewesen ist, für das wiedervereinte Deutschland in all seinen Mauern die Erinnerung an das Städtische aufbewahrt zu haben." Was könnte das für eine akzeptabel runderneuerte Hauptstadt heißen? Vielleicht, sichtbar zu machen, dass die Stadt sich dem Wandel der sozialen und ökologischen Bedürfnisse und den veränderten wirtschaftlichen Bedingungen anpasst - und dabei getrennte Stadträume verbindet, sowie ihre gemeinsame Geschichte und Zukunft wieder erlebbar werden lässt. Das Bild von der offenen Stadt könnte für den Versuch stehen, eine jeweils neue lokale Identität zu formulieren, die auf das Ganze ausstrahlt, ohne alles Kantige und Widerborstige einfach abzuhobeln. Ob Berlin noch immer, wie Tucholsky einst meinte, die Nachteile einer amerikanischen Großstadt mit denen einer deutschen Provinzstadt vereint - darüber muss sich jeder selbst ein Urteil bilden. Als Grundlage dafür ist die Lektüre des vorliegendes Bandes unverzichtbar."Berlin: offene Stadt. Die Erneuerung seit 1989" (Hrsg. von den Berliner Festspielen und der Architektenkammer Berlin). Nicolai Verlag, Berlin 1999, 208 S., 127 Abb., 49,80 DM

Robert Kaltenbrunner

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