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AUFGESCHLAGEN Zugeschlagen: Evangelien aus Plastik

Denis Scheck, Literaturredakteur beim Deutschlandfunk, bespricht einmal monatlich die „Spiegel“-Bestsellerliste, abwechselnd Belletristik und Sachbuch – parallel zu seiner ARD-Sendung „Druckfrisch“, die am 28. August aus der Sommerpause zurückkehrt.

Denis Scheck, Literaturredakteur beim Deutschlandfunk, bespricht einmal monatlich die „Spiegel“-Bestsellerliste, abwechselnd Belletristik und Sachbuch – parallel zu seiner ARD-Sendung „Druckfrisch“, die am 28. August aus der Sommerpause zurückkehrt.

10) Martin Wehrle: Ich arbeite in einem Irrenhaus (Econ, 284 S., 14,99 €)

Extrem plakativ und als Ratgeber recht unbrauchbar, immerhin aber amüsant – insbesondere aufgrund der angeblich realen, aber allein schon stilistisch das Rüchlein des Erfundenen ausdünstenden Fallgeschichten. Nur: Den Wahnsinn, die Familie mit der Firma zu verwechseln, machen große Romanciers wie Martin Walser in „Seelenarbeit“ oder William Gaddis in „JR“ tausend Mal eindringlicher erlebbar.

9) Andreas Kieling und Sabine Wünsch: Ein deutscher Wandersommer (Malik, 304 S., 22,95€)

Ein Fernsehbegleitbuch, das mich verblüfft: die Schilderung einer Wanderung entlang der früheren innerdeutschen Grenze schlägt einen in Bann, weil sie sensible Natureindrücke mit spannenden Reportagen über Ursachen und Nachwirkungen der deutschen Teilung vermischt.

8) Helmut Schmidt: Religion in der Verantwortung (Propyläen, 256 S., 19,99 €)

Interessant wird dieses Buch durch den auf jeden Seite spürbaren Streit zwischen dem Realpolitiker und dem gläubigen Christen Schmidt, empfehlenswert machen es Sätze wie: „Die meisten der heutigen Christen halten ihre Religion für eine Religion der Versöhnung und des Friedens, tatsächlich aber haben sich ihre christlichen Vorfahren seit bald zweitausend Jahren fast ohne Ausnahme an unendlichen Kriegen beteiligt.“ Halleluja!

7) Richard David Precht: Wer bin ich, und wenn ja wie viele (Goldmann, 400 Seiten, 14,95 €)

Schwer vorstellbar, dass es nach 183 Wochen auf der Bestsellerliste noch irgendeinen Leser geben könnte, der diese anregende Einführung in zentrale Fragen von Philosophie und Hirnforschung noch nicht im Schrank stehen hat. Ich glaube, dieses Buch steht inzwischen auf der Bestsellerliste, weil viele Menschen eingesehen haben, dass sie ihre verliehenen Exemplare nie wieder zurückbekommen werden.

6) Joachim Fuchsberger: Altwerden ist nichts für Feiglinge (Gütersloher Verlagshaus, 224 Seiten, 19,99 €)

Wie 80 Millionen Deutsche mag auch ich Joachim Fuchsberger, aber bei aller Liebe: Dieses Buch des 84-Jährigen macht mich auf eine unbequeme Wahrheit aufmerkwsam: Joachim Fuchsberger hat es sich als Schauspieler immer zu leicht gemacht, als Buchautor macht es sich Joachim Fuchsberger aber leider viel zu leicht.

5) Sven Kuntze: Altern wie ein Gentleman (C. Bertelsmann, 256 Seiten, 19,99 €)

So dicht nebeneinander erringen Sven Kuntzes Meditationen übers Altern gegen Fuchsbergers Aging-Aphorismen natürlich einen Kantersieg: Kuntzes Buch ist um Längen besser geschrieben und schärfer gedacht. Andererseits heißt es den Wellness-Kult doch ein wenig zu übertreiben, wenn Kuntze schreibt: „Ich meide Bücher, die schwer in der Hand liegen, und Orte, die voller Menschen sind.“

4) Walter Kohl: Leben oder gelebt werden (Integral, 274 Seiten, 18,99 €)

Lesenswert allein schon aufgrund der Passagen, die beschreiben, wie Helmut Kohl vom „innerparteilichen Problemfall zum umjubelten ‚Kanzler der Einheit’ wird“, ist dieses Buch über einen Vater, der sich von der Familie entfernt und die deutschen Wiedervereinigung richtet, einsichtsreich und nicht peinlich. Immerhin.

3) Margot Käßmann: Sehnsucht nach Leben (Adeo, 176 Seiten, 17,99 €)

Immer der erste Gedanke, immer das nächstliegende Bild, immer die flachste und schnarchlangweiligste Conclusio. Das liest sich dann so: „Wer die Sehnsucht nach Frieden kennt, wird auf die Taube vertrauen.“ Und wer auch nur ein Fitzelchen von Stilempfinden hat, der wird darauf vertrauen, dass binnen weniger Jahre nach solchen Plastik-Evangelien kein Hahn mehr kräht.

2) Dieter Nuhr: Der ultimative Ratgeber für alles (Lübbe, 304 Seiten, 12,99 €)

Wahrlich gelogen wäre, dieses Buch lohnte wiederholte Lektüre. Aber eine Runde auf Nuhrs Karussell einfacher Wahrheiten – „Vergessen Sie ihre finanziellen Ambitionen, legen Sie sich auf die Couch, schließen Sie die Augen und kraulen Sie sich im Schritt!“ – besitzt durchaus Unterhaltungswert.

1) Heribert Schwan: Die Frau an seiner Seite (Heyne, 320 Seiten, 19,99€)

Ein Buch, aus dem ich erfahre, warum Wolfgang Schäuble nicht Kanzler wurde, welche Folgen die Vergewaltigung der zwölfjährigen Hannelore Kohl durch russische Soldaten hätten haben können, und ob an ihrem Suizid weniger eine Lichtallergie als schwere Depressionen Anteil hatten: Ein solches Buch klingt – nicht schlecht, aber nach Boulevard. Es ist das Verdienst von Heribert Schwan, aus einem solchen News-of-the-World-Stoff ein ästhetisch konventionelles, immerhin aber überraschendes Buch gemacht zu haben. Mitunter aber gehen diesem Biografen in meinem Augen aber die Gäule durch. „Hannelore weigerte sich, die Wahrheit anzuerkennen, sich therapieren zu lassen und verwehrte auch ihrem Mann letztendlich den Einblick in ihr Seelenleben.“ Um so etwas zu wissen, müssen sich Biographien an jener Stelle eines Ehelebens einnisten, die man im Schwäbischen das „Gräbele“ nennt. Irgendwo zwischen Grab und Gräbele ist auch dieses Buch anzusiedeln.

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