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Denis Scheck, Literaturkritiker.

© Hendrik Schmidt, dpa

Aufgeschlagen-Zugeschlagen: Sackkarre und Bentley

Denis Scheck, Literaturredakteur im Deutschlandfunk, bespricht einmal monatlich die „Spiegel“-Bestsellerliste, abwechselnd Belletristik und Sachbuch – gewöhnlich parallel zu seiner ARD-Sendung „Druckfrisch“, die allerdings gerade bis zum 6. September pausiert. Hier die Online-Version.

10) C. J. Daugherty: Night School. Und Gewissheit wirst du haben. (Deutsch von Jutta Wurm und Peter Klöss, 416 S., 18,99€)
Reifen „quietschen“, Mienen sind „düster“, Mägen „ziehen sich zusammen“, Kreischen ist „schrill“, Angst „schrecklich“ und Vorbereitungen – erraten – „laufen auf Hochtouren“. C. J. Daughertys Heimat ist die Hölle des Klischees. Keineswegs nur sprachlich versinkt der für Leser ab zwölf unzumutbare Abschlussband dieser Jugendbuchreihe um Schüler des Cimmeria-Internats im Sumpf der Stereotypie wie eine Ente aus Blei. Das „Hanni und Nanni“ unserer Tage. Oder um im Duktus des Titels zu bleiben: „Und Schrott wirst du gelesen haben.“

9) Jilliane Hoffman: Samariter (Deutsch von Karoline Fell und Leonard Thamm, Wunderlich, 479 S., 24,95 €)
Eine Tote in einem Zuckerrohrfeld. Ein auf den ersten Blick glasklarer Mordfall. Eine Zeugin, die vor Gericht tranchiert wird wie ein Thanksgiving-Truthahn. Die Ex-Staatsanwältin Jilliane Hoffman aus Florida hat hier weniger einen Thriller geschrieben, eher ein Buch gewordenes Zwölf-Schritte-Programm, das denn auch konsequent mit dem Satz der 32-jährigen Protagonistin endet: „Ich heiße Faith ... Und ich bin Alkoholikerin.“ Als Krimi ist dieses Buch ein Flop, als Studie einer gequälten Seele ärgerlich flach, im Übrigen gilt: Gott schütze uns vor Amerikanern mit einer moralischen Mission.

8) Jussi Adler-Olsen: Verheißung (Deutsch von Hannes Thiess, 592 S., 19,90 €)
Gewaltpornografischer Unsinn aus Dänemark.

7) Peter Høeg: Der Susan-Effekt (Deutsch von Peter Urban-Halle, 397 S., 21,90 €)
Ebenfalls gewaltpornografischer Unsinn aus Dänemark. Aber von der ersten Seite an erzählt Høeg seine Geschichte um eine Zukunftskommission in den 70ern, deren Prognosen irritierend zutreffend ausfallen, und eine Experimentalphysikerin, die alle ihre Mitmenschen vollkommen aufrichtig werden lässt, so lustig, virtuos und ideenreich, dass einem wenig Unterhaltsameres in diesem Literaturherbst passieren kann als dieser Roman,

6) Ralf Rothmann: Im Frühling sterben (Suhrkamp, 234 S., 19,95 €)
Ata und Fiete, zwei 17-jährige Freunde, werden kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs zur Waffen-SS gepresst, Ende März wird der eine exekutiert, und der andere ist Teil des Erschießungskommandos. Was unter der Feder anderer Autoren vielleicht nur eine Schnurre aus dem letzten großen Krieg geworden wäre, vermag der große Erzähler Ralf Rothmann in berührende Literatur zu verwandeln. Die Aktualität dieses Romans liegt in der Erkenntnis, dass es „ein Gedächtnis der Zellen in unserem Körper gibt, auch der Samen- und Eizellen also, und das wird vererbt. Seelisch oder körperlich verwundet zu werden macht was mit den Nachkommen.“ Genau davon erzählt Ralf Rothmann, der übrigens ein sehr guter Büchner-Preis-Kandidat wäre.

5) Frederik Backmann: Oma lässt grüßen und sagen es tut ihr leid (Deutsch von Stefanie Werner, Krüger, 464 S., 19,99 €)
Elsa „ist sieben Jahre Jahre alt, allerdings fast acht.“ Oma „ist siebenundsiebzig Jahre alt. Allerdings fast achtundsiebzig.“ Beide „sind nicht besonders gut darin“. Oma stirbt an Krebs, vererbt Elsa, deren Eltern sich getrennt haben, aber noch ein paar Briefträgerdienste an die anderen Bewohner ihres Hauses – den Rest erklärt der Titel. Dass derart angestrengte Wohlfühl-Witzischgkeit durchaus zu nerven vermag, belegt dieser grundfade Roman, der aus dem Inferno der Degeto-Stoffentwicklung entstammen könnte.

4) Harper Lee: Wer die Nachtigall stört (Deutsch von Claire Malignol, überarbeitet von Nikolaus Stingl. Rowohlt, 464 S., 19,95 €)
Dies war das Lieblingsbuch aller halbwegs aufgeweckten 14-Jährigen, ehe sich diese Altersgruppe in einem beispiellosen Akt der Selbstverblödung auf Stephenie Meyer stürzte. Auch ich liebe diesen Roman, und ein Liebesverrat ist, wir wissen es zur Genüge aus der Literatur, immer besonders schlimm. Aber Kritiker dürfen nun mal nicht lügen, und deshalb ist es an der Zeit zu bekennen, dass Harper Lees Roman über Rassismus und die Erkenntnis der Doppelbödigkeit des Erwachsenenlebens eine starke, herzerwärmende und verdammt gut erzählte Geschichte ist, die viele Millionen Leser seit Jahrzehnten zu Recht weltweit begeistert. Weltliteratur von der innovatorischen Kraft einer Gertrude Stein, Virginia Woolf oder eines William Faulkner ist dieser Roman aber nicht.

3) Kiera Cass: Selection. Die Kronprinzessin. (Deutsch von Lia-Matir Rust und Susann Friedrich, Sauerländer, 400 S., 16,99 €)
Ein grundalbernes und strunzdämliches Jugendbuch aus der Feder einer amerikanischen Autorin mit Aristokratietick, dessen Reflexionsniveau selten über Dialoge hinauskommt wie: „Gute Nacht, Eure Hoheit. – Gute Nacht.“ Eingekeilt zwischen den beiden Romanen von Harper Lee wirkt dieses Buch wie eine Sackkarre zwischen zwei Bentleys.

2) Harper Lee: Gehe hin, stelle einen Wächter (Deutsch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, DVA, 320 S., 19,99 €)
Die Nachricht von der schieren Existenz dieses Vorläuferromans von „Wer die Nachtigall stört“ war eine Sensation. Wer ein gleichrangiges Buch erwartet hat, wird von „Gehe hin, stelle einen Wächter“ und der Wiederbegegnung mit dem alten Atticus Finch enttäuscht werden. Der Geschichte der Abnabelung der Jean Louise Finch von ihrer Familie sind die mehr als fünfzig Jahre seit seinem Entstehen nicht wirklich gut bekommen. Aber es ist eine einmalige Gelegenheit, Einblick in den Schaffensprozess einer Schriftstellerin zu nehmen und zu verfolgen, wie stark Lektorat und Markterwartungen ein Werk formen können.

1) Dörte Hansen: Altes Land (Knaus, 287 S, 19,99 €)
Dörte Hansen ist eine psychologisch versierte Autorin, deren Buch über die Vererbung des Traumas der Vertreibung, Apfelbauern im Alten Land und die wirren Aussteigerideen saturierter Städter vom Landleben traumwandlerisch die richtige Balance zwischen Familienroman und Satire findet.

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