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Kultur: Aufregen können wir uns selbst

Eine

von Marius Meller

Wo sind die Intellektuellen, warum schweigen sie? So fragt man üblicherweise, wenn es mal wieder eng wird in Kultur und Politik. Auf der anderen Seite rümpfen viele die Nase, wenn sie etwa hinter den Einlassungen unseres Nobelpreisträgers zur Heuschreckendebatte dessen krude Thesen zur Wiedervereinigung wiederkennen: Nein, nicht schon wieder dieser Jargon des ewigen Rechthabens, nicht schon wieder die Litanei der üblichen Verdächtigen. Lieber, bittebitte, wieder einen guten Roman, ein gelungenes Gedicht.

Sie sind zum Aufregen, die Intellektuellen – wenn sie uns nicht aufregen. Sie sollen gefälligst die Debatten liefern, an denen uns Zeitungslesern die Augen übergehen. Sie sollen die Diskurse hochkochen, am besten zum handfesten Skandal.

Es gibt aber einen ganz neuen Typus des Intellektuellen, den wir noch nicht kannten und erst langsam wahrzunehmen beginnen, dem wir dennoch Aufmerksamkeit schenken, obwohl er ganz und gar nicht aufregend daherkommt. Ganz im Gegenteil: Erhebt er seine Stimme, werden wir beruhigt, dürfen wir uns ganz entspannt im Hier und Jetzt in unseren Sessel zurücklehnen. Der Clash der Kulturen? Nur die Ruhe, auf der „Langzeitagenda“ stehe viel eher die „Europäisierung des Islams“ als die „Islamisierung Europas“. Wir hätten doch immer noch „den Säkularismus der Aufklärung in unserem Erbe“, der „tonisch“, also immunisierend und kräftigend wirke. Im Übrigen bräuchte der Westen seine Stärken nicht ständig kleinzureden. So der Karlsruher Philosoph Peter Sloterdijk. Der Essay, den er in „Focus“ veröffentlichte, ist eine einzige, riesenhafte, tonische Beruhigungstablette. Leute regt euch nicht auf, die Situation ist komplex, aber es wird ganz gewiss nicht schlimm kommen.

Hier können wir einen Intellektuellen am Werk sehen, der genau das Gegenteil eines notorischen Aufregers ist. Strukturell haben die Beruhigungstexte des Philosophen mehr mit einer Predigt des Dalai Lama zu tun als mit einer pessimistischen Gefährdungslitanei von Jürgen Habermas. Manche mögen sich für diese intellektuelle Gelassenheit nicht begeistern. Aber auch Ruhe kann provozieren.

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