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Kultur: Augenblick der Hiebe

Unter Verdacht: Die Debatte um den Antisemitismus in Martin Walsers Werk geht in eine neue Runde

Der neueste Vorwurf Marcel Reich-Ranickis an Martin Walser ist drastisch. In einem Interview mit der „Bunten“ sagte er: „Er verübelt Juden, dass sie überlebt haben. Das ist durchaus kein Antisemitismus, das ist schon Bestialität.“ Dagegen ging Walser juristisch vor, Reich-Ranicki hat nun eine Unterlassungserklärung unterschrieben und das Wort „Bestialität“ zurückgenommen. Doch der WalserKomplex lässt sich nicht juristisch lösen.

Anlass der neuen Konfrontationsrunde ist die Dissertation des Lüneburger Literaturwissenschaftlers Matthias N. Lorenz, der in der „Judendarstellung“ bei Walser durchgehend „literarischen Antisemitismus“ entdeckt („Auschwitz drängt uns auf einen Fleck“, Metzler Verlag, 49,95 Euro). Diesen Vorwurf fand Walser „absurd, einfach absurd“. Was er bisher vernommen habe, so seine Replik in der Schweizer „Weltwoche“, bestätige nur, „dass da ein Studiosus sich in grotesker Art und Weise interessant machen will“. Ähnlich reagierte auch Walsers Biograf Jörg Magenau. Er erklärte den „jungen Lüneburger Doktoranden“ in der „taz“ zum Repräsentanten eines „alarmistischen Anti-Antisemitismus, der, was er zu bekämpfen vorgibt, erst konstruiert, um seine eigene Dringlichkeit zu untermauern“.

Dagegen betonen Elke Schmitter im „Spiegel“ und Micha Brumlik in der „FR“ die wissenschaftlichen Qualitäten der Fleißarbeit von Lorenz. Er habe es sich mit der Anwendung des Begriffs „Antisemitismus“ nicht leicht gemacht. Mit „stupender Gründlichkeit“ enthülle das Buch die Autorenpersönlichkeit Walsers, der seit Beginn seiner Karriere „verbissen“ an der „Aufwertung der deutschen Opfer“ und, damit verbunden, an der „Abwertung und an der Vernachlässigung jüdischer Leidenserfahrung“ arbeite. Auch für die „FAZ“, die seit dem offenen Brief Frank Schirrmachers zu Walsers Roman „Tod eines Kritikers“ keine Sonderbeziehungen mehr zu dem Großautor pflegt, ist das Lorenz-Buch kein unwissenschaftlicher Schnellschuss. Der Zusammenhang von Walsers patriotischem Projekt mit der „negativen Charakterisierung von Juden“, so Friedmar Apel, könne „jetzt nicht mehr geleugnet“ werden.

In der Tat legen Lorenz’ Recherchen nahe, dass Walsers Werk mit einer gewissen Notwendigkeit in den von antisemitischen Klischees durchzogenen Roman „Tod eines Kritikers“ (2002) münden musste. Die dort geschilderte psychopathische und zugleich autobiografische Beziehung zwischen dem deutschen Schriftsteller und dem jüdischen Kritiker, die Lorenz zufolge „das tradierte Muster einer Täter-Opfer-Umkehr“ bediene, sei eine Umwertung, die sich schon vorher offenbart habe. Etwa in dem Roman „Die Verteidigung der Kindheit“ (1991) durch die Gleichsetzung von Dresden und Auschwitz. Oder 1965 im Essay „Unser Auschwitz“, einem frühen Dokument des gekränkten Patriotismus. Während der „Fall Walser“ in den Medien erst mit der Paulskirchenrede von 1998 und der Bubis-Kontroverse begann, führt Lorenz ihn als „Werkkontinuität“ bis auf die unmittelbare Nachkriegszeit zurück. Dabei zeigt sich der Literaturwissenschaftler als ein profunder Kenner von Walsers Gesamtwerk und der Sekundärliteratur. Allein die zähe Kontinuität seines „literarischen Antisemitismus“ mache verständlich, warum es Walser stets gelungen sei (und noch immer gelinge), die turnusmäßig wiederkehrenden Feuilletondebatten über deutsche Erinnerungskultur und Judenvernichtung auf Stammtischniveau zu bringen.

Auch im gesellschaftlichen Leben konnte Lorenz keinerlei Signale einer Distanzierung des Autors von seinen antisemitischen Figurenbildern erkennen. Dass ihre „Eigenständigkeit als jüdische Deutsche“ von Walser nicht anerkannt wurde, hätten neben Marcel Reich-Ranicki und Ignatz Bubis auch Jurek Becker oder Ruth Klüger erfahren müssen.

Lorenz führt die Explosion antijüdischer Ressentiments in Walsers Werk nicht auf eine biografische Mutation zurück. Die Wandlung von einem sozialistischen zu einem nationalkonservativen Autor spiele in diesem Kontext keine Rolle. In Deutschland sei der Antisemitismus keine Frage von rechts oder links. Aber gerade deshalb gibt es im Fall Walser wahrscheinlich so etwas wie eine „Antisemitismusfalle“. Walser nennt den Antisemitismusvorwurf „absurd“, scheint aber mit dem Etikett zu kokettieren. Er provoziert mit Bewusstseinsromanen, die über verletzte und gedemütigte deutsche Seelen berichten. Seine literarischen Selbstverteidigungsübungen sind gezielte Unternehmungen einer Opferkonkurrenz. Solche Texte werden zu Recht unter Verdacht gestellt.

Dennoch wäre es kurzschlüssig, Walser zum antisemitischen „Fall“ zu erklären. Lorenz verweist auf das weite Feld des „literarischen Antisemitismus“ im Umkreis der Gruppe 47, in der auch Walser „einen Ort hatte“. Dieser Ort war privilegiert. Hans Werner Richter, der Chefideologe der Gruppe, hat Walser als seinen „talentiertesten“ Schüler gelobt. Zu der „weitgehenden Werkkontiniuität“ Martin Walsers gehört offensichtlich der aus jener Ära stammende ungebrochene Wille, eine heile, nationale Gefühlsidentität der Literatur gegen Juden und Judentum zu „verteidigen“. Das ist kein Spielchen, Matthias Lorenz hat Recht: „Martin Walser n’est pas Lieschen Müller.“

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