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Kultur: Augenzeuge der Dämmerung

Allen Ginsberg & Co.: Fotografien von Brian Graham bei argus fotokunst

Ein halbes Jahrhundert ist es her, dass Allen Ginsberg mit seinem Gedichtband „Bowl“ (Das Geheul) Amerika schockierte. Und als Ginsberg im Alter von 71 Jahren 1997 in New York starb, waren er und seine Dichterfreunde längst Geschichte: die Drogenpartys, die Auftritte in den verkommenen Quartieren der Lower East Side, sogar der lautstarke Protest gegen den Vietnam-Krieg und alles, was nach bürgerlicher Moral roch. Doch kurz bevor die Kraft dieser Welle wieder verebbte und historisch wurde, stieß noch ein hervorragender Fotokünstler zum Ginsberg-Kreis: Brian Graham.

1951 geboren und somit eine ganze Generation jünger als die Beatniks, hatte Graham bei Robert Frank die künstlerische Weihe erfahren. 1984 lernte er Ginsberg kennen. Aus diesem und den folgenden drei Jahren stammen die meisten der Schwarzweißarbeiten, die derzeit in der Berliner Galerie argus fotokunst zu sehen sind (Originalabzüge 600–1200 Euro). Graham, nicht weniger wild aussehend als die von ihm verehrten Poeten, Musiker und Underground-Filmemacher, wurde Augenzeuge der Dämmerung, die sich schon über die Szene senkte. Gewiss, da warten noch ein paar junge Leute in den Höfen geduldig auf die Ankunft des Meisters, doch Graham zeigt ihn nicht vor vollen Sälen, sondern mit Freunden in der Küche. Andere aus dem Kreis besitzen gar keine Küche mehr, sondern landen nachts vor dem überfüllten Obdachlosenasyl einer katholischen Mission wie Harry Smith – ein zusammengesunkenes Häufchen Elend. Ein anderer, Herbert Huncke, hockt in einem kärglichen Hotelzimmer Verse notierend auf dem Bettrand. Ein Dritter wühlt orientierungslos im Chaos einer Behausung.

Graham, der später Reisereportagen veröffentlicht, hält einfühlend Freud und Leid dieser Männerfreundschaften fest. Eine Zornesfalte steht auf seiner Stirn, während er mit dem hinten sitzenden Ginsberg im Auto fährt. Vielleicht gilt sie dem Zeitgeschehen, das über den anarchistischen Aufschrei der Beatniks wie über eine Mode hinweggegangen war. Viele Namen sucht man heute in den Lexika vergeblich, aber man muss von Louis Cartwright und Herbert Huncke auch nichts gehört haben, um über die Zerstörung und das Verlangen nach Liebe in ihren Gesichtern erschüttert zu sein, wenn sie, es ist 1993, einander umarmend nächtens aus einem Literatencafé wanken. Einzig Robert Frank, der zum Vorbild für viele Fotografen wurde, und der viel jüngere Tom Waits scheinen in dieser Bildserie eine Zukunft zu haben.

Auf den ersten Blick nichts mit den Beatniks zu tun hat die Aufnahme eines Sandsturms, der 1985 über Coney Island tobte. Im Vordergrund hält ein Mann schützend einen Karton um seinen Kopf und bleibt unbeirrt sitzen, während die Leute hinter ihm dem Sturm zu entkommen versuchen. Besser könnte kein Bild die Einsamkeit und die absurde Situation der verlorenen Generation spiegeln.

Galerie argus fotokunst, Marienstraße 26, bis 29. April; Dienstag bis Sonnabend 14–18 Uhr. Der von einer vorausgegangenen Ausstellung in Lissabon übernommene Katalog (port./engl.) kostet 15 Euro.

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