zum Hauptinhalt

Kultur: Aus Hype wird Hit

Pop-Hauptstadt Berlin: Was macht sie attraktiv? Eine Spurensuche zur Popkomm, die morgen beginnt

„Weggang? Das war kein Weggang. Das war eine Beerdigung.“ Fritz Braums Sicht auf Sonys jammervollen Rückzug nach München wird man gerne teilen in Berlin. Denn das fragile Selbstbild als Bundesmusik- und Medienhauptstadt hatte – nach dem gefeierten Zuzug von Universal, MTV und anderen Stammspielern des internationalen Popgeschäfts – einen empfindlichen Dämpfer verpasst bekommen. „Sony Music ist verschwunden, von BMG geschluckt, und das geschieht ihnen ganz recht. Das war nur noch ’ne Tax-Company, ohne jede Haltung.“

Braum hat selbst mal für Sony gearbeitet. Heute ist er Geschäftsführer von „Four Music“, dem Label der Fantastischen Vier, mit dem er vor drei Jahren von Stuttgart nach Berlin übersiedelte. „Wir wollten überleben. Deshalb mussten wir wachsen. In Stuttgart ging das nicht mehr“, begründet er den Wechsel. An Braums Schreibtisch lehnt eine goldene Schallplatte für Gentleman. Bekommen soll die Trophäe aber Max Herre, zum Dank dafür, so beharrlich genervt zu haben, als es Braum noch undenkbar schien, einen Kölner Jungen unter Vertrag zu nehmen, der lupenreinen Reggae verbreitet. Heute ist Gentleman einer der meistverkauften Reggae-Künstler der Welt.

Früher, als Four Music noch am Neckar residierte, wurden solche Erfolge kaum wahrgenommen. Seit man an die Spree kam, findet man sich viel mehr „ausgeleuchtet“, wie Braum sagt – von den Medien ebenso wie von Branchenkollegen. Unlängst fädelte er mit BMG („die Typen haben Haltung“) ein Joint Venture ein, das den Major so weit auf Abstand hält, dass Four Music seine Indie-Allüren – ausgiebiger Toursupport und langjähriger Künstleraufbau – weiterhin pflegen kann.

Wirtschaftlich hat sich der Umzug ausgezahlt, künstlerisch aber war Four Music, das für sich in Anspruch nimmt, „urbane Musik“ zu veröffentlichen, bislang noch nicht in Berlin angekommen. Die nächste Veröffentlichung allerdings ist eine kleine Überraschung: Gods of Blitz, eine Gitarrenrockband aus Kreuzberg. Ausgerechnet auf jenem Label, das sich mit Hiphop, R’n’B und Reggae einen so wohlklingenden Namen gemacht hat. Aber Rock, stellt Braum fest, ist doch irgendwie auch ganz schön urban. „New Rock“ nennt er das, was momentan vor allem aus London kommt, und Gods of Blitz klingen auch so, als wollten sie sich genau da einreihen. Eine Band, die es schwer hatte, die passende Unterkunft zu finden. „Gib das dem Fritz“, soll dann einer wohlmeinend gesagt haben, „der versteht das.“ Fritz Braum verstand und nahm sie unter Vertrag, nächste Woche erscheint mit „Stolen Horse“ ihr Album-Debüt, aber keineswegs, wie er sagt, weil ein nach Berlin gezogenes Label auch Berliner Künstler haben müsse. „Ich liebe die Gitarre, immer noch.“ Inzwischen muss man sich dafür auch in Berlin nicht mehr entschuldigen.

Doch wer darf überhaupt als Berliner Künstler gelten? Sind Bands wie Tarwater oder Beatsteaks authentischer als El*ke oder Stereo Total – nur weil jene sich aus gebürtigen Berlinern zusammensetzen, diese aber Zugewanderte sind? Das durchaus Erstaunliche am Berlin der letzten Jahre ist nämlich, dass so viele Musiker aus der ganzen Welt hier ihren Wohnsitz nehmen. Sie schätzen die günstige Lebenshaltung. „Natürlich trifft man hier auf eine immense Anzahl hochinteressanter Künstler“, sagt Thorsten Lütz, der mit seinem Kleinlabel „Karaoke Kalk“ vor zwei Jahren von Köln nach Berlin kam, aber genauso lange brauchte wie Four Music, um mit Static nun auch einen Berliner Künstler zu veröffentlichen. „Es ist viel schwieriger geworden, einen Newcomer zu platzieren. Die Konzentration auf die Leute, die man aufgebaut hat, geht vor.“ Lütz, der nicht wegen fehlender Ausleuchtung, sondern aus privaten Gründen nach Berlin kam, zeigt sich gelassen gegenüber jeder Berlin-Euphorie. Den künstlerischen Nährboden der Stadt hält er aber doch für einzigartig. „So einfach wie hier ist es nirgendwo, Kontakte zu anderen Künstlern zu knüpfen. Man kann sehr schnell einen künstlerischen Prozess einleiten.“

Diesem Sog, der Musiker und Bands schon seit einigen Jahren nach Berlin zieht, folgen jetzt ausländische Labels und Produzenten. „Dort, wo die Ideen entstehen“, sagt Tim Renner, ehemaliger Chairman und CEO bei Universal Deutschland, „da muss auch produziert werden.“ Als Renner Universal verließ, nahm er die Namensrechte an seinem alten Label „Motor“ wieder mit; der synergetische Relaunch als mittelständisches Indie-Label und als Szene-Radio zugleich ist eines der erfindungsreichsten jungen Projekte in Berlin, das mit Phillip Boas „Decadence & Isolation“ auch gleich in die Charts einstieg.

Die Platte wurde von Gordon Raphael (The Strokes) produziert. Der hat schon in Seattle, New York und London gelebt, jetzt baut er sein Studio an der Spree auf, denn so viel Kreativität, sagt Raphael, habe er noch nirgends auf einem Haufen erlebt. Zugezogen sind auch die Produzenten Michael Ilbert (Hives, Cardigans) und Peter Schmidt vom renommierten Hamburger „Home Studio“. „Produzenten und Musikmanager“, sagt Renner, „können nur so gut sein wie das Umfeld, das sie tagtäglich um sich haben.“

Schon wieder einer dieser stetig wiederkehrenden Berlin-Hypes? „Das ist jetzt keine Blase mehr“, sagt Raik Hölzel. „Der Hype fängt an, sich in Substanz zu verwandeln.“ Hölzel hat Erfahrung, denn wie kein anderes Label musste „Kitty- Yo“ schon für einige Berlin-Euphorien herhalten, selbst zu einer Zeit, da Hölzel noch kellnerte, um mit seiner Firma nicht Pleite zu gehen. Nach den großen Erfolgen der aus Kanada zugezogenen Peaches und Gonzales wagte Kitty-Yo vor einem Jahr einen noch etwas wackeligen Neuanfang mit den Künstlern Spyritual, Jay Haze, Richard Davis und Jahcoozi, die die Internationalität und den Eklektizismus Berlins in ihren sehr verschiedenen Platten deutlich widerspiegeln.

Es fängt überhaupt vieles noch mal neu an zurzeit, bei Zugezogenen wie bei Alteingesessenen, und in vielen Fällen trägt dieser Neuanfang den Charakter einer Konsolidierung. Der Rauch lichtet sich – nach der krachenden Branchenkrise und nach den Berlin-Versprechen der Vergangenheit. Jetzt zeigt sich, was übrig bleibt. Die Musikbranche, resümiert im April diesen Jahres das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in einer eigenen Untersuchung, sei zu einem wichtigen „Produktionscluster“ geworden, das Berlin zu einem „ausstrahlungsfähigen Standort“ gemacht habe. 60 Prozent des deutschen Tonträgermarktes finden hier statt, die Netzwerkbeziehungen seien beispielhaft auch für andere Branchen.

Die „Label Commission Berlin“, mit Kitty-Yos Raik Hölzel als ihrem Vorsitzenden, trägt Sorge für die Vernetzung dieser recht kleinteiligen Labelszene, die sich mittlerweile im Kreuzberger Spreeraum, in Charlottenburg und am Prenzlauer Berg konzentriert hat. Die Commission hilft dabei, gemeinsam und geballt gegenüber dem Senat aufzutreten – und gegenüber den Banken. Inzwischen gibt es bei der Berliner Bank sogar eine Art „Labelbeauftragten“, der den Kleinstunternehmern mit Liquiditätskrediten aushilft, die ihnen von anderen Geldinstituten verweigert werden.

Die „Label Commission“ vertritt die Marke „Berlin“ aber auch im Ausland. Die ist dort sehr gefragt, sagt Hölzel, und die Letzten, die das bemerken, sind die Berliner selbst. Auch Fritz Braums „Club-Abteilung“, zu der etwa die Turntablerockers gehören, wird international ganz anders wahrgenommen, seit Four Music in Berlin weilt. Auf Partys, die in London unter Mottos stattfinden wie „Blame it on Berlin“. Ein Omen vielleicht, denn Berlin, da ist Braum sich fast sicher, „wird London eines Tages den Schneid abkaufen“.

Zur Startseite