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AUSGEHEN: Silvester wird überschätzt

Über die Feiertage hatte sie das Problem noch erfolgreich verdrängt. Die Ruhe und Vertrautheit der thüringischen Provinz wirkten wie ein schützender Kokon gegen alle Sorgen, die sie in der Hauptstadt zurückgelassen hatte.

Über die Feiertage hatte sie das Problem noch erfolgreich verdrängt. Die Ruhe und Vertrautheit der thüringischen Provinz wirkten wie ein schützender Kokon gegen alle Sorgen, die sie in der Hauptstadt zurückgelassen hatte. Nur einmal wurde es kurz kritisch, als Tante Erna beim Kaffeetrinken unvermittelt fragte: „Und was machst du Silvester?“ Sie hatte irgendwas von einer Party mit Freunden gemurmelt. Doch Tante Erna, die früher bei den Dorffesten immer eine der letzten auf der Tanzfläche gewesen war, hakte nach: „Geht ihr nicht zum Brandenburger Tor?“ – „Ach nee, das ist nur was für Touristen“, hatte sie geantwortet. Leicht pikiert nahm Erna noch einen Schluck Kaffee.

Jetzt war sie wieder in Berlin und die Silvesterfrage rückte bedrohlich näher. Nur noch vier Tage! Und sie hatte keinen Plan! Wieso konnte es nicht so schön geschmeidig laufen wie letztes Jahr, als Jamie in diesem halb legalen Neuköllner Club aufgelegt hatte und sie alle dorthin gefahren waren? Jetzt war er zurück in England, der Laden geschlossen – und die Freunde stellten sich tot. Wahrscheinlich lag es daran, dass Lisa und Tim sich kürzlich getrennt hatten, wodurch alle anderen in ein Solidaritätsdilemma gerieten. Mit wem sollte man feiern? Wie würde es Lisa beziehungsweise Tom auffassen? Die beiden ganz außen vor zu lassen, ging natürlich auch nicht. Also warteten alle ab. Keine Mails, Anrufe, SMS. Selbst auf Facebook war das Schweigen geradezu ohrenbetäubend. Marion hatte ein Foto von einem komischen Pullover gepostet, den ihr ihre Eltern geschenkt hatten. Ralf schimpfte über einen überfüllten, verspäteten ICE, in dem er auf der Rückfahrt von Köln feststeckte. Solches Zeugs halt.

Nur eine klassische Übersprungshandlung konnte helfen: Zum Friseur! Gleich um die Ecke gab es einen Laden, in dem man ohne Termin bedient wurde. Bis auf einen Kunden war das Geschäft leer. Der zweite Friseur blätterte in einer Zeitschrift herum. Er war Anfang 50, hatte kurze Locken und sah kompetent aus. Kurz darauf saß sie in seinem Stuhl und sagte: „Die Spitzen schneiden, bitte.“ Es folgte eine wunderbare Kopfmassage bei der Haarwäsche, im Hintergrund lief Housemusik, toll. Mit schnellen Handgriffen machte sich Rico, wie der Friseur laut Namensschildchen hieß, ans Werk.

Sie betrachtete gerade ihre Augenringe im Spiegel, da knallte seine Frage an ihren Hinterkopf: „Und wat machste Silvester so?“ – „Weiß noch nicht.“ – „Ach! Biste ooch so eene, die uff die perfekte Party wartet, wa?“ – „Ja, genau“, sie wollte dieses Gespräch nicht, aber Rico dröhnte weiter: „Kleene, Silvester is ne völlig überschätzte Anjelejenheit. Nich verrückt machen lassen. Kaufste einfach n’ schönet Sektchen und lädst dir die Nachbarn ein.“

Er klang wie Kurt Krömer. Absurd! Doch auf dem Heimweg gingen ihr seine Worte nicht aus dem Kopf. Plötzlich war ihr klar: Die Silvesterparty ist bei mir! Sie schrieb eine Rundmail (auch an Lisa und Tim), postete ein Feuerwerksfoto plus Einladungstext und ging Sekt kaufen. Als sie später in ihr Postfach schaute, hatte sie schon zehn euphorische Zusagen. Danke, Rico, dachte sie und stellte den Sekt kalt.

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