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Flotter Feger. 1962 fotografierte Abisag Tüllmann diese Frau auf einem Motorroller in Frankfurt am Main.

© bpk / Abisag Tüllmann

Ausstellung: Abisag Tüllmann und der berührende Blick

Das Berliner Museum für Fotografie würdigt das Werk von Abisag Tüllmann, die auf ihren Schwarz-Weiß-Bildern die Unbehaustheit und Ausgrenzung von Menschen beklemmend festgehalten hat.

Die alte Frau im ausgebeulten Männerjackett hat ein Tuch fest um den Kopf gezurrt und eine Plastiktüte am Arm. Sie presst sich an die Kachelwand im Bahnhof Zoo, hält den Blick am Boden, als würde sie damit unsichtbar. Nicht minder berührend eine andere Obdachlose mit Sonnenbrille, die sich hinter einem Wall aus Regenschirmen und vollen Plastiksäcken auf dem Kurfürstendamm verschanzt. Noch doppelbödiger die beiden Männer in Schlafsäcken unter der Brücke und der zerlumpte Bärtige vor dem Schaufenster mit dem Spirituosen-Slogan „Wenn’s gemütlich werden soll“.

Immer wieder hat die Frankfurter Fotografin Abisag Tüllmann (1935–1996) die Unbehaustheit und Ausgrenzung von Menschen beklemmend auf SchwarzWeiß-Bildern festgehalten. Was der Verlust von privatem Lebensraum bedeutet und was es heißt, auf der Straße wohnen, essen und schlafen zu müssen, zeigen acht von insgesamt 340 Bildtafeln in der großen Tüllmann-Werkschau im Berliner Museum für Fotografie. Kurator Ludger Derenthal hat das Motiv „Obdachlosigkeit“ bewusst in den Eingangsbereich der aus Frankfurt übernommenen Retrospektive gestellt, die ohne chronologische Hängung nacheinander die Themen Großstadt, Politik, Reisen und Theater abhandelt.

Abisag Tüllmanns Gespür für bestürzende Formen von Armut, Verlassenheit und Einsamkeit kam nicht von ungefähr. Die Fotografin war als Vierteljüdin unter dem Naziregime aufgewachsen. Die Traumata ihrer Kindheit veranlassten sie, ihren Vornamen Ursula später in den biblischen Namen Abisag umzuändern.

Bekannt wurde Tüllmann zunächst als Chronistin des aufstrebenden Frankfurt. Legendär ihr meisterliches Foto vom Fronleichnamszug rabenschwarz gekleideter Nonnen über die Mainbrücke „Eiserner Steg“. Die 1957 aus Wuppertal zugewanderte Fotografin hat noch viele andere Bilder dieser Art in der widersprüchlichen Nachkriegslandschaft der Hessenmetropole gemacht. Eine erste Tranche davon ist 1962 in einem dreisprachigen, fulminanten Fotobuch erschienen. Der Titel „Großstadt“ für ihre Hommage an Frankfurt war Programm – als Synonym für moderne Urbanität und deren Probleme. Die ästhetisch anspruchsvollen Aufnahmen, meist im Querformat, zeigen den städtischen Alltag unterschiedlichster Sozialgruppen. Tüllmanns Interesse galt Bankiers, Politikern und Geschäftsleuten ebenso wie Hausfrauen, Künstlern und Studenten, Gastarbeitern und Obdachlosen.

„Fotografieren ist für mich sehen, möglichst genau sehen“, beschrieb Tüllmann ihre Profession und sagte: „Ich will Fotos machen, darin meine Träume, meine Formkraft verwirklichen.“ Über hundert Zeitungen und Zeitschriften – darunter „Zeit“, „Stern“ und „Spiegel“ – zählten zu den Abnehmern der Freiberuflerin, die sich ihre Themen meist selbst suchte und dann den Redaktionen anbot. Bis 1996 entstand mit 500 000 Negativen ein riesiges fotografisches Lebenswerk von großer inhaltlicher Bandbreite.

Abisag Tüllmanns Sicht auf die Dinge war ohne Pathos, dabei stets am Nerv bundesdeutscher Befindlichkeit und aktueller sozialer Umbrüche. Intensiv setzte sie sich mit der Studentenrevolte an der Frankfurter Universität, dem Häuserkampf im Westend und dem Konflikt um die Startbahn West auseinander. Ihre Aufnahmen von Daniel Cohn-Bendit, Rudi Dutschke, Joschka Fischer und vielen anderen Akteuren der 68er-Bewegung sind heute Dokumente der Zeitgeschichte.

Ergänzend visualisierte sie das Desinteresse der Wohlstandsbürger an der linken Szene. Beispielsweise 1968 auf ihrem Schnappschuss „Terrassencafé“, wo eine gelangweilte Runde saturierter Männer hinter Kaffeetassen und einem Boulevardblatt mit der Schlagzeile „Attentat auf Rudi Dutschke“ sitzt. Alles in allem ein Familienalbum aus der alten Bundesrepublik mit vielen Bildern, die man kennt, ohne zu wissen, wer sie gemacht hat.

Auch als Bildjournalistin auf Auslandsreisen nach Osteuropa, Afrika, Israel und Palästina und ganz besonders als Theaterfotografin reüssierte Abisag Tüllmann fast vier Jahrzehnte lang. Seit die Westfälin als 22-Jährige nach Frankfurt am Main gezogen war, bewegte sie sich dort in der jungen Kunst- und Kulturszene. Fast dreißig Jahre lang begleitete sie die Inszenierungen von Claus Peymann bildlich. Das Leben auf der Bühne war für sie ebenso bewegend und abbildenswert wie das wirkliche Leben. Im Zentrum ihres Interesses blieb gleichwohl die reale Verletzbarkeit menschlicher Existenz. Nur wenige Jahre vor ihrem frühen Tod 1996 nahm sie ihre einfühlsamen Fotos der Obdachlosen vom Kurfürstendamm und Bahnhof Zoo auf – bloß ein paar Schritte entfernt vom Charlottenburger Museum für Fotografie, in dem jetzt ihr Lebenswerk ausgestellt ist.

Museum für Fotografie, Jebensstr. 2, bis 18. Sept., Katalog bei Hatje Cantz, 29,80 €.

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