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Mahnmal aus Stoff. Die von Frauen genähten Tücher erinnern an die Toten der Jugoslawienkriege.

©  SMB/David von Becker

Ausstellung im Museum Europäischer Kulturen: Buchstaben der Trauer

Die Ausstellung „1000 Tücher gegen das Vergessen“ in Dahlem gedenkt der Opfer der Jugoslawienkriege. Im Mittelpunkt steht ein textiles Mahnmal, das geflüchtete Frauen geschaffen haben.

Remzija Suljićs Hand wandert sanft über die pastellfarbenen Tücher. Zwischen Blumen und Blättern, Vögeln und Wolken sind Namen in den Stoff gestickt, Lebensdaten, Orte. Sie stehen für Angehörige, Freunde oder Nachbarn, die wie Suljić 1995 in Srebrenica waren, als die Jugoslawienkriege mit dem Massaker an den Bosniaken (muslimischen Bosniern) ihren grausigen Höhepunkt erreichten. Serbische Militärs ermordeten über 8000 Jungen und Männer. Jeder Name stehe für einen Menschen, den Remzija Suljić einmal gekannt hat, erklärt die 71-Jährige – verloren an den Hunger, die Bomben. Ihr gelang damals die Flucht nach Deutschland.

Suljić ist zu Gast im Museum Europäischer Kulturen, wo die Ausstellung „1000 Tücher gegen das Vergessen“ läuft. Die in Deutschland lebende Bosnierin ist eine von 300 Frauen aus dem ehemaligen Jugoslawien, die nach ihrer Ankunft in Berlin beim Verein Südost Europa Hilfe bekamen. Hier entstand auch die Idee mit den Totentüchern. Erst schrieben die Frauen die Namen ihrer verlorenen Angehörigen auf Transparente, hielten Mahnwachen am Wittenbergplatz. 2004 begannen sie mit der Künstlerin Anna Brägger eine „Rolle des Gedenkens“ zu schaffen.

Band der Erinnerung und Zeichen der Versöhnung

Die Zeugnisse individuellen Verlustes werden zu einem Band der Erinnerung zusammengenäht, einem textilen Mahnmal. Es soll ein Zeichen der Versöhnung setzen und warnen vor einem in Hass und Gewalt umschlagenden Nationalismus. Seit Jahren wird die „Rola“, wie Brägger sie nennt, bei Gedenkveranstaltungen zu den Jugoslawienkriegen gezeigt. Nun sind die bunten, über 40 Meter langen Stoffbahnen im Dahlemer Museum zu sehen. Jedes Tuch ist verziert mit ornamentalen Motiven, weißen Maiglöckchen, Rosen, Austern oder Blättern. In der Mitte: Namen, Geburts- und Todestag und Orte, an denen die Menschen starben. Srebrenica, Dubrovnik, Višegrad, Sarajevo und andere, wo sie massakriert wurden oder elendig verhungerten. Ihre Namen in das Tuch zu nähen, bot vielen Frauen die Möglichkeit, eigener und kollektiver Trauer angemessene Form zu verleihen. Die Identifizierung der Toten dauert noch immer an, im Gedenken an die Opfer sind die Nachfolgestaaten Jugoslawiens gespalten. Die Ausstellung wirft Schlaglichter auf diesen Umgang mit der Kriegsgeschichte.

Im Entrée: aktuelle Landschaftsaufnahmen einiger Schreckensorte. Das jetzige Postkartenidyll lässt die grausigen Geschehnisse nicht mehr ahnen. Kuratorin Beate Wild präsentiert auch Unterrichtsmaterialien. Wie wird die Geschichte vermittelt? „Die Anerkennung der wechselseitigen Opfer- und Täterrolle fällt immer noch schwer“, sagt Wild. Ähnliches schrieb auch der 2015 verstorbene Osteuropa-Historiker Holm Sundhaussen: Die gemeinsame Bewältigung, eine allen gerecht werdende Erinnerung, bahne sich erst langsam an. Vor allem NGOs und die Zivilgesellschaft tragen diesen Prozess.

Der Schmerz des Krieges, die Tränen der Trauer

Für Remzija Suljić war der Krieg eine Maschine zur Bereicherung weniger. „Menschen gingen rein, wurden zerdrückt, Geld kam raus“, sagt sie. Sie brauchte zwei Jahre, bis sie Tücher stricken konnte, zuvor zitterte ihre Hand jedes Mal. Auch jetzt noch, wenn sie an der Rolle vorbeigeht, kommt alles Erlebte zurück. Sie hat mehr als hundert Tücher genäht. In Videos erzählen weitere Frauen ihre Geschichte und was die „Rola“ ihnen bedeutet. Manche sehen in den Buchstaben den Schmerz des Krieges, die Tränen der Trauer, andere erblicken darin ihre gestohlene Jugend. Eine Frau berichtet, wie das Stricken ihr half, den Seelenfrieden wiederzufinden. Auch Suljić kennt eine versöhnliche Geschichte. Als die Rolle das erste Mal aufgehängt wurde, 2007 in Srebrenica, traf sie eine ehemaligen Nachbarin. Suljić hatte den Namen ihres Sohnes in eines der Tücher gestickt. Die Frau weinte vor Freude. Ihr Sohn war im Krieg getötet worden, sein Leichnam verschollen. Aber zumindest das Gedenken an ihn hatte es nach draußen geschafft.

Museum Europäischer Kulturen, Arnimallee 25, bis 25. Juni, Di–Fr 10–17 Uhr, Sa–So 11–18 Uhr

Giacomo Maihofer

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