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Ausstellung: Leichte Last

Niele Toroni stellt in der Galerie Julius Werner aus. Berlinern könnte der Künstler bekannt vorkommen: Seine Pinselabdrücke sind auch im Hambuger Bahnhof zu finden.

Pinselabdrücke, exakt alle 30 Zentimeter auf die Leinwand gesetzt: Ist das noch Malerei? Wie soll man die gemalten Raster nennen, die Niele Toroni seit vier Jahrzehnten kleinen oder großen Formaten, Fußböden, Wänden und manchmal sogar Personen aufprägt?

Faszinierend ist die unerbittliche Konsequenz seines Handelns und die Klugheit dieses Konzepts, das mithalf, die Grenzen der Gattung Malerei in der Nachkriegskunst zu sprengen. Neben Robert Ryman und Daniel Buren gehört der 70-jährige Italiener zu den Hauptvertretern der sogenannten Analytischen Malerei, die auf die pure Physis des Farbauftrags setzt und dabei weder Metaphysik noch Illusionismus im Sinn hat.

Den Berlinern müssten Toronis penible Pinselabdrücke bestens bekannt sein: Zusammen mit Dan Flavins Neonröhren prägen sie das Erscheinungsbild des Hamburger Bahnhofs. Von der Straße aus erscheint die gemalte Struktur im offenen Bogengang des zweiten Stockwerks indes ziemlich klein dimensioniert und damit allzu subtil – eines dieser Kunstwerke im öffentlichen Raum, die man nur im Hinterkopf gespeichert hat.

Umso besser, dass die Galerie Julius Werner jetzt eine Nahsicht auf Toronis Kunst ermöglicht, die in Berlin eher selten mit Einzelausstellungen gewürdigt wurde: Aus der Zeit vor seinem internationalen Durchbruch stammt seine zehnteilige „Serie 1983“, die sich über zwei großzügige Ausstellungsräume verteilt. Jedes der zwei Meter hohen Formate trägt 36 in versetzten Zeilen „geschriebene“ Abdrücke eines Anstreicherpinsels Nr. 50, die mit virtuoser Genauigkeit von unten nach oben ausgeführt sind. Die Farben differieren von Leinwand zu Leinwand: Gelb, Signalrot, Blaugrün, ein dunkler Aubergine-Ton, reines Schwarz.

Betrachtet man die Bilder länger – was dem vergeblichen Versuch gleichkommt, regelmäßige Muster in den so schlicht wie raffiniert konstruierten Strukturen erkennen zu wollen –, setzt sich das virtuelle Netz in Bewegung. Toronis Farbtupfer-Systeme lösen komplementärfarbige Echos auf der Netzhaut aus, sie heben scheinbar vom Untergrund ab, sprudeln im Hirn, beleben die Sinne, beflügeln die Gedanken. Und den Raum. Die Tendenz zur Entgrenzung ist schon bei kleineren Leinwand- und Papierarbeiten zu erleben (25 000 bis 50 000 Euro) und wirkt noch eindrucksvoller in Toronis Arbeiten direkt auf der Wand, auf die man bei Julius Werner freilich verzichten muss.

Im Gegensatz zu Burens ebenso prominenten Streifen-Interventionen dekonstruieren Toronis Raster die Räume nicht, bringen sie aber mit einem feinen Oberton zum Schwingen. „Es braucht stundenlanges Arbeiten ein Leben lang“, hat Toroni einmal angemerkt, „bis etwas Leichtigkeit hat.“

Galerie Julius Werner, Kochstraße 60, bis 1.9., Di–Fr 10–18.30, Sbd 11–16 Uhr.

Jens Hinrichsen

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