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Josef Bayer: Am Motzener See, 1920er Jahre (Ausschnitt)

© Privatsammlung Hamburg, courtesy Bodo Niemann Berlin

Ausstellung über Lebensform-Projekte: Die Nackten und die Nazis

Als die Nacktkultur zur Massenbewegung wurde: Die Potsdamer Ausstellung "Einfach. Natürlich. Leben" rekonstruiert Lebensreform-Projekte in Berlin und Brandenburg.

Stummfilmszenen aus „Neusonnland“, einer Freikörperkolonie am Motzener See. Paddelboote mit jeweils zwei bis drei Insassen ziehen vorbei. Die Kamera schwenkt mit und erfasst eine Frau mit Kind, die winkend im Schilf steht. Malerische Ausblicke durch Baumgruppen auf den glitzernden See. Zelte werden aufgebaut. Faustballspiele. Eine Tanzaufführung, eingeleitet von Tamburinschlägen. Dann senkt sich die Abenddämmerung herab. Sommersonnenwende, gefeiert mit einem Fackelzug. Jugendliche entzünden aufgestapeltes Holz, wieder wird getanzt. „Heilige Glut ruft die Jugend zusammen“, heißt es in einem Zwischentitel.

Was auf diesen Bildern, die von 1926 stammen, irritiert, ist nicht die Nacktheit aller Akteure. Es sind die Zeichen, die vorausweisen auf den Arier- und Körperkult der Nationalsozialisten. Im Abspann des Films, der in der Ausstellung „Einfach. Natürlich. Leben“ im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte zu Potsdam läuft, findet sich ein Symbol, das wie ein dreibeiniges Hakenkreuz aussieht. Der Motzener See, südlich von Berlin bei Königs Wusterhausen gelegen, war nach dem Ersten Weltkrieg zu einem Ort mit utopischem Potenzial aufgestiegen. Wobei Utopien nicht automatisch zur Weltverbesserung führen müssen.

Unter dem Motto „Wir wollen das gesunde sinnliche Denken veredeln und die falsche Scham bekämpfen“ hatte es am Motzener See schon im Kaiserreich „Freikörperkulturbünde“ gegeben. Doch diese Gruppen hatten ihre Aktivitäten noch verschämt auf privatem Gelände betrieben. In der Weimarer Republik entwickelte sich die Nacktkultur zu einer Massenbewegung. Was an diesem märkischen Gewässer bedeutete: zu einem Ausflugsbetrieb mit Gastronomie und bester Bahnverbindung nach Berlin.

Propaganda für mehr Licht und Luft

Der „Daily Express“ aus London behauptete 1931, wohl etwas übertrieben, in der Hauptstadt gebe es „100 000 Nacktberliner“. Bücher, die das Projekt Motzener See mit vielen Fotos vorstellten, hießen „Wir sind nackt – und nennen uns Du“ oder „150 Tage nackt“. Bald zerfiel das Publikum in Fraktionen. Von dem traditionell reformorientierten „Freisonnland-Bund“ spaltete sich eine Gruppe junger FKKler ab, die in „Körperschulungswochen“ fanatisch Gymnastik mit Medizinbällen und Eisenkugeln betrieben. Ihr Vorturner Hans Surén sollte im „Dritten Reich“ Erfolge feiern.

Der Motzener See ist einer von 15 Orten und Themen, die in der herausragenden Ausstellung über „Lebensreform in Brandenburg 1890–1939“ vorgestellt werden. „Einfachheit“, „Natürlichkeit“, später auch „Schönheit“ und „Gesundheit“ waren die Leitbegriffe einer Bewegung, die sich gegen die Existenzerfahrung in der modernen, industrialisierten Welt wandte, gegen Naturferne und Vereinzelung. Es ging um nicht weniger als um die Rückkehr ins Paradies, „die Glückseligkeit unseres Daseins, die nur in der Beziehung zur Natur bestehen kann“, wie es in einem zeitgenössischen Text heißt. Berlin, wo 1901 mit der Gründung eines „Ausschusses für Schülerfahrten“ die Geschichte der Wandervogel-Bewegung begann, fungierte als Zentrum aller Visionen, die vom Vegetarismus und der Naturheilkunde bis zur Siedlungsbewegung reichten. Es war „der Pol, von dem alles ausging“, so Kuratorin Christiane Barz.

Stars und Sonderlinge waren unter den Lebensreformern, manchmal auch in Personalunion. Der Jugendstilmaler Fidus, 1868 als Sohn eines Konditors mit dem Namen Hugo Höppener in Lübeck geboren, zog 1909 mit Frau und Kindern von Berlin nach Woltersdorf. Dort errichtete er nach einem eigenen Entwurf in der Villensiedlung Schönblick das wuchtige „Fidushaus“, in dem einige seiner erfolgreichsten Werke entstanden, etwa das „Lichtgebet“, die Rückenansicht eines blonden Jünglings, der mit erhobenen Armen den Tag begrüßt. Ein Stück Propaganda für mehr Licht und Luft, das zeitweilig in jedem zehnten deutschen Bürgerhaushalt gehangen haben soll.

Städtebaulicher Zukunftsoptimismus

Nachdem der Pastorensohn Georg Bauernfeind infolge einer zweimonatigen Fastenkur in dem Haus gestorben war, benannte Fidus seine gewinnträchtige Firma nach dem vermeintlichen Märtyrer in „Verlag des St.-Georgs-Bundes“ um. Der Künstler beschäftigte sich mit Germanentum, trat der NSDAP bei und porträtierte 1943 Hitler. Eine Gegenfigur zu Fidus ist Gustav Nagel, der selbst ernannte „Wanderprediger und Tempelwächter vom Arendsee“. Fotos zeigen ihn in jesusgleicher Gestalt, knapp geschürzt, mit ausgezehrtem Körper und eine Standarte haltend: „Ich komme zu euch in friden.“

Der Gastwirtssohn hat eine eigene, fonetische Schreibweise erfunden und tritt für „gotfertrauen und selbstvertrauen“ ein. Als er in den Wäldern am Arendsee bei Wittenberge eine Wohnhöhle gräbt, leiten Ortsansässige ein Entmündigungsverfahren ein. Doch Nagel bekommt die Unterstützung prominenter Fürsprecher, unter anderem vom Sexualforscher Magnus Hirschfeld. Später begibt sich der Prediger, der von Obst- und Gemüsespenden lebt, auf Wanderschaft, löst auf seinem Weg Menschenaufläufe aus und gelangt bis nach Jerusalem. Zwischen 1924 und 1930 kandidiert er dreimal vergeblich für den Reichstag. 1952 stirbt er in einer Heilanstalt, in die er auf Initiative der Staatssicherheit eingewiesen wurde.

Städtebauliche Visionen gelten gemeinhin als Projekte des Zukunftsoptimismus. Doch eine Siedlung, die sich „Heimland“ nennt, signalisiert bereits mit ihrem Namen ideologische Rückwärtsgewandheit. 1909 auf einem 117 Hektar großen Gelände bei Rheinsberg gegründet, war sie das ehrgeizige Projekt des Publizisten Theodor Fritsch, der die antisemitische Zeitschrift „Hammer“ herausgab. Vorbild war die seit 1893 bestehende, bis heute existierende „Vegetarische Obstkolonie Eden“ in Oranienburg. Fritsch schwebte eine „Stadt der Zukunft“ als „Pflanzschule deutschen Lebens“ vor. Pläne zeigen eine ringartige Bebauung, die einen radialförmig organisierten Stadtkern umschließen. Auch an eine Untertunnelung war gedacht. Lasten sollten unterirdisch transportiert werden. Entstanden sind allerdings nur elf Häuser. 1926 wurde die Genossenschaft liquidiert. Gescheitert ist Heimland am Frauenmangel und an den mangelnden landwirtschaftlichen Kenntnissen der „Hammerleute“.

Das Ende durch die Wirtschaftskrise

Nur wenige Kilometer weiter bei Neuruppin entstand die Freiland-Siedlung Gildenhall. Sie war 1921 vom Berliner Zimmer- und Baumeister Georg Heyer gegründet worden, sollte eine Mustersiedlung sein und zog Künstler aus dem Werkbund und vom Bauhaus an. Erstaunlicherweise pflegte das eher linksutopische Gildenhall freundschaftliche Kontakte mit dem völkischen Heimland. Entworfen wurde die Siedlung unter anderem von den Architekten Otto Bartning und Adolf Meyer. Zu ihren besten Zeiten gab es 19 Werkstätten, das „groteske Ballett“ orientierte sich an Oskar Schlemmer. Im Museum sind Möbel aus gelborangenem Holz, Keramiken und geometrisch gemusterte Wandteppiche zu sehen. Am Ende brach die Weltwirtschaftskrise der Genossenschaft finanziell das Genick.

„Einfach. Natürlich. Leben“ ist eine erstaunliche, manchmal erschreckende Ausstellung. Brandenburg zeigt sich als Freiluftlabor der Moderne. Nicht alle Ideen, die dort ausprobiert wurden, waren menschenfreundlich.

Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte, Potsdam, bis 22. November. Der Katalog (vbb) kostet 19/24,99 €.

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