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Grande horizontale. Henri Gervex: „Rolla“, 1878 (Ausschnitt).

© Musée d'Orsay/P. Schmidt

Ausstellung zu Prostitution in Paris: Zur Stunde des Absinth

Von der Bordsteinschwalbe bis zur Aristokraten-Maitresse: Prostitution beeinflusst seit Jahrhunderten die bildenden Künste. Eine Ausstellung im Pariser Musée d’Orsay folgt ihren Spuren.

Eine junge Dame im weiten, grünen Umhang flaniert über die Champs-Elysées, sie trägt die schwarze Halskrause eng, ihr gepunkteter Schleier legt sich über die gepuderten Wangen. Die Lichter des Boulevards lassen das Fell eines Schimmels blitzen, der eine Pferdekutsche hinter sich zieht. Die mysteriöse Dame in Louis Anquetins post-impressionistischem Gemälde „Femme sur le Champs-Elysee la nuit“ von 1890 ist schwer einzuordnen. Sie scheint aus gutem Hause zu sein, aber was macht eine Frau von Stand mitten in der Nacht auf dem Boulevard?

Die spazierenden Damen der Zeit sind kaum unterscheidbar von „respektablen Damen“, nur in ihren Codes. Und dann auch nur für die, die sie lesen können. Eine pierreuse, eine Bordsteinschwalbe, erkenne man am kurz aufblitzenden Stiefel unter dem beiläufig angehobenen Rock, lernt man in Balzacs „Glanz und Elend der Kurtisanen“. Unsichtbar für den, der nicht weiß, wo hinzusehen.

Paris zwischen dem zweiten Empire und der Belle Epoque war die Hauptstadt der Vergnügung. Ob pierreuses, filles encartées oder insoumises – Prostituierte mit und ohne Lizenz waren allgegenwärtig. Pariser strömten zur heure de l’absinthe um 5 Uhr nachmittags in die Cafés, wo die Kellnerinnen nicht nur den Durst bedienten. Sie besuchten die maisons de tolérance, in denen Prostitution seit 1804 legalisiert war oder trafen sich mit den edleren Damen auf den Tribünen der Oper.

Schon die ersten Fotografen experimentierten mit Pornografie

Maler und Bildhauer, Romanciers und Poeten, Dramatiker und Regisseure – sie alle waren fasziniert von der Halbwelt der käuflichen Liebe, die auf den zweiten Blick so halbseiden gar nicht mehr ist. Schon in den frühesten Fotografien wurden pornografische Experimente gemacht, fast immer übernahmen Prostituierte die Darstellung der Erotik in dieser prüden Zeit. Vor allem die bildende Kunst beschäftigte sich mit Prostitution: in Naturalismus, Impressionismus, Fauvismus, später auch Expressionismus. Im Pariser Musée d’Orsay kann man sich bis Januar noch durch die Geschichte der Prostitution als Muse führen lassen.

Die Geschichte der Prostitution ist eine von Glanz und Elend, der Spaziergang durch die Ausstellung bildet das nach. Begonnen bei den choreografierten Ritualen von sexuellem Angebot und Nachfrage auf den Straßen, wie bei Jean Bérauds „l’attente“ („das Warten“) und „la proposition“ („das Angebot“). Stark dokumentarische Arbeiten über das Geschäft der Straßenprostitution. Über die ikonischen Bilder von Degas und Monet, der mit angewinkelten Armen wartenden verseuses in den brasseries de femmes (Cafés, die auch als Ort der Prostitution bekannt waren), Absinth im Glas, Zigarettenspitze in der Hand. Bis zu den verschwenderischen, flamboyanten Festen in den Tanzsälen der Theaterhäuser.

Die Glanzseite der Prostitution fand in den hohen Häusern der Kunst statt. Im Ballett, im Theater, aber vor allem in der Oper, dem Lieblingsort der Pariser Bourgeoisie und den feinen Herrschaften der Aristokratie. Zwischen ihnen tummelten sich die „Ratten“, junge Mädchen aus bescheidenem Hause, von ihren Eltern auf die Ballettschule geschickt, in der Hoffnung auf eine Liebschaft mit einem feinen Herren und dem damit verbundenen sozialen Aufstieg. Diese Opernfeste inspirierten Édouard Manet. Auch der große Pariser Naturalist und Realist Henri Gervex dokumentierte diese Welt ausgiebig in seinem Werk, etwa in „Le Bal de l’Opéra, Paris“ von 1886.

Henri de Toulouse-Lautrec zeigte den Alltag in den Bordellen

Grande horizontale. Henri Gervex: „Rolla“, 1878 (Ausschnitt).
Grande horizontale. Henri Gervex: „Rolla“, 1878 (Ausschnitt).

© Musée d'Orsay/P. Schmidt

Gervex bekanntesten Arbeiten entstanden jedoch noch einen Schritt höher auf der Statusleiter der Prostitution. „Madame Valtesse de la Bigne“ von 1879 etwa ist ein Porträt einer demi mondaine, einer fast Respektablen, einer grande horizontale. Die Maitressen der Aristokraten kamen meist aus dem Theater, spielten dort simple Rollen, waren eher wegen ihrer Schönheit auf der Bühne. Über ihre Verbindungen mit der Aristokratie erreichten sie nicht selten selbst Prominenz. In ihren fulminanten Kleidern wurden sie von den Operngängern bewundert, von der Presse beobachtet. Sie definierten den guten Geschmack. Dieses Überlappen der Welten der grandes horizontales und der „respektablen Damen“, die Unmöglichkeit, sie zu trennen, war eine große Quelle der Faszination für die Künstler der Zeit.

Der wohl wichtigste bildliche Dokumentarist des Lebens von Prostituierten dieser Zeit war Henri de Toulouse-Lautrec. Während andere die Prostituierten als femmes fatales darstellten, als Gegenentwurf zum Anständigen, malte Toulouse-Lautrec sie als Frauen, die ein banales, alltägliches Leben im Bordell lebten. Anfangs fertigte er noch Lithografien an, wie in seiner Serie „Elles“, die er vor Ort in den Bordellen vorzeichnete und die Frauen beim Alltag zeigt, wie beim Kämmen oder Waschen. Später malte er Frauen in Öl, ihre Schlafräume putzend, zu Abend essend, beim Arzt, beim Kartenspielen oder beim Anziehen der schweren, farbenfrohen Rüschenkleider der Zeit. Von 1893 bis 1894 lebte Toulouse-Lautrec mit den Prostituierten in der Rue des Moulins, im ersten Arrondissement. 1893 entstand so sein wohl bekanntestes Werk „Au Moulin Rouge“. Vier Jahre nach Eröffnung des jetzt legendären Varietés, deren ikonische Plakate er später entwerfen würde.

In der aufkommenden Moderne zeigt sich immer stärker der Widerspruch zwischen der ganz offensichtlichen Prostitution wie am Moulin Rouge und dem prüden Gesellschaftsklima. Auch in der Kunst verbreitert sich das Spektrum vom ursprünglich Dokumentarischen in alle möglichen Malschulen. Vor allem im Fauvismus mit František Kupka, Auguste Chabaud um 1910 herum entstanden ikonische Abbildungen von Prostituierten, die noch heute nachwirken.

Es ist kein geringerer als Picasso, der das Bild der Prostitution zur Geburtsstunde einer neuen Kunstrichtung macht. Anfangs malte er dokumentarisch, fast karikierend und bunt wie Toulouse-Lautrec, dann mit einer Art naiver Vulgarität, die schlechte, maskenartige Schminke der Prostituierten nachfühlend. Später wie bei den Abbildungen von Patienten des Syphilis-Krankenhauses St. Lazare empathischer, tiefer, dem Thema eine Wichtigkeit aufbürdend, mit dem Anspruch eines psychologischen Portraits. Seine Formen radikalisieren sich und finden ihren Höhepunkt 1907 in den „Demoiselles d’Avignon“, dem ersten Bild des Kubismus, das Picasso bekannt machte. Eines der wichtigsten Bilder der Kunstgeschichte – ein Bild von fünf nackten Prostituierten.

„Splendeurs et misères – Images de la prostitution 1850 – 1910“ ist im Pariser Musée d'Orsay bis 17.1.16 zu sehen. Anschließend im Van Gogh Museum Amsterdam.

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