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Humanist und Himmelskugel. Der Globus stammt von dem berühmten Kartografen Mercator.

©  Dirk Pauwels

Ausstellung zur Idee der Utopie: Ins Glück verbannt

Europäische Vision: Vor 500 Jahren erschien Thomas Mores „Utopia“ und beeinflusste maßgeblich die neuzeitlichen Ideale. Eine Ausstellung in Löwen erinnert an diese Zeitenwende.

Das Zeitalter der Utopien sei vorbei, sagt die von Weltkriegen, Atomschlägen, Genoziden und Klimakatastrophen gebeutelte, von revolutionären Menschheitsexperimenten ernüchterte oder gar entsetzte Vernunft. Zwar erscheint die eben noch utopische Welt der Roboter und künstlichen Intelligenz schon als werdende Realität. Und eine der vielleicht letzten Utopien könnte die zellgenetische Verlängerung des menschlichen Lebens sein, der Traum (oder Albtraum, ein bisschen unsterblich zu werden).

Doch die Naturwissenschaftler, IT-Spezialisten und Hightech-Kybernetiker gebrauchen kaum noch dieses alte, eher mythisch-mystisch oder philosophisch-poetisch aufgeladene Wort Utopie. „Unter dem Pflaster der Strand“, Slogans wie dieser aus der Zeit der Studentenrevolte um 1968, sind heute fast vergessen. Nicht das Chaos, aber die Utopie ist aufgebraucht. Nevermore, kräht der Rabe von Edgar Allan Poe, an der Schwelle zwischen Romantik und Moderne.

So viel Abklärung entspringt der Warte des aufgeklärten Westbürgers, mit Wohnsitz in der so genannten Ersten Welt. Für Millionen oder gar Milliarden Menschen gibt es Utopia indes noch immer: die Wunderinsel, den Sehnsuchtskontinent. Er heißt bei den Flüchtlingen und Migranten aus Asien und Afrika zum Beispiel Europa. Europa, das den Begriff der Utopie einst geboren hat: als Vision eines so noch nicht erfahrenen, indes ziemlich genau beschriebenen Landes und Staatswesens. Das geschah vor gerade 500 Jahren.

„Utopia“ wird entdeckt

Im Spätherbst 1516 veröffentlicht der flämische Drucker Dirk Martens eine lateinische Schrift, die mit noch weiteren Ankündigungen den Titel trägt „De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia“, verfasst von Thomas Morus. Das zunächst in etwa 300 Exemplaren gedruckte Werk erfährt binnen zwei Jahren schon weitere Auflagen in Paris und Basel. Im Jahr 1524 erscheint gleichfalls in Basel, dank des Druckpioniers Johann Froben, für den Hans Holbein als Illustrator arbeitet, eine der wichtigsten Verlagsstädte Europas, die erste deutsche Übersetzung. Es ging um „Ein wahrhaft herrliches, nicht weniger heilsames denn kurzweiliges Büchlein von der besten Verfassung des Staates und von der neuen Insel Utopia“ – die im Deutschen auch als „wunderbarliche“ Entdeckung galt.

Der Autor hieß eigentlich Thomas More. Er war ein englischer Rechtsgelehrter und Diplomat, den Heinrich VIII. 1529 zum Lordkanzler ernannte (eine Art Premierminister). Zu Mores Freunden zählten führende Geister der Aufklärung wie der Stadtschreiber von Antwerpen, Peter Aegidius, der im Buch als Adressat der ihm gewidmeten „Utopia“ auftritt, und vor allem Erasmus von Rotterdam. Dieser hatte More bei Begegnungen in Flandern und London wohl zu „Utopia“ animiert.

Großflächiges Panorama der Neuezit

Der Verfassername ermöglicht auch 500 Jahre später noch das Wortspiel „Utopia & More“ mit dem die um fast noch ein Jahrhundert ältere Universität von Löwen jetzt ihre Ausstellung zum Jubiläum tituliert. Sie ist mehr als nur die die Beigabe zur soeben eröffneten Schau „Auf der Suche nach Utopia“ im kurz „M“ genannten Museum der Stadt Löwen, die im zweisprachigen Belgien mal Leuven, mal Louvain heißt. Beide Ausstellungen sind eine Reise wert, die in die Weltkulturgeschichte führt und am spannend tragischen Rand auch in die Gegenwart.

Im Museum M, das vor sieben Jahren aus einer postbarocken Altstadtresidenz in den eleganten Kuben-Komplex des belgischen Architekten Stéphane Beel verwandelt wurde, haben die Kuratoren Jan van der Stock und Annelies Vogels ein über mehrere Hallensäle verteiltes großflächiges Panorama der beginnenden Neuzeit entworfen. Mit riesigen, wunderbaren Weltkarten, die zum Teil erst vier Kontinente enthalten, mit fabelhaften Himmels-Globen, darunter auch von Gerhard Mercator aus Löwen, dem in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts bis in die arabische Welt berühmten, als neuer Ptolemäus gefeierten Kartografen. Halbe Räume für sich nehmen Wandteppiche wie „Die Bewegung des Universums“ aus Toledo oder der grandiose Gobelin aus dem Nationalmuseum Lissabon ein, der „Die Landung von Vasco da Gama in Indien“ zeigt.

Sechs Stunden Arbeit pro Tag, kein Privatbesitz

Es ist seit Kolumbus die Zeit der Seefahrer, Astronomen, Weltentdecker. Auch in Thomas Mores „Utopia“ ist der fiktive Erzähler und Entdecker der neuen Insel ein portugiesischer Humanist, der zuvor schon Reisegefährte seines Landsmanns Amerigo Vespucci gewesen sein soll. So hängen in Löwen nun auch die Porträts der großen Zeitgeister, unter ihnen das von Quinten Metsys 1517 gemalte Abbild des Erasmus aus der Sammlung von Queen Elizabeth II. in Windsor Castle; dazu Albrecht Dürers Männerbildnis „Der Humanist“ aus dem Berliner Kupferstichkabinett oder von der National Portrait Gallery in London eine frühe Kopie des bekanntesten Thomas-More-Porträts, das Hans Holbein d. J. 1527 gemalt hat (heute unausleihbar in der New Yorker Frick Collection).

Auf Mores Insel Utopia soll kein Privatbesitz existieren, und in der idealkommunistischen Gemeinschaft müssen alle, Männer wie Frauen, nur sechs Stunden am Tag arbeiten. Der Rest ist Freizeit, darf allerdings nicht dem schieren Müßiggang dienen, sondern die Utopier, denen zur Unterhaltung allenfalls Schachspiele erlaubt sind, werden angehalten, sich ständig fortzubilden, ihre Kinder gewissenhaft zu erziehen oder für die nicht mehr arbeitsfähigen Kranken und Alten zu sorgen. Das Gesundheitssystem mit Krankenhäusern und freier Heilfürsorge wirkt bis heute vorbildhaft, auch in den USA, bleibt es eine wahre Utopie.

Die neuzeitliche Utopie-Idee nimmt ihren Anfang

Ackerbau und Handwerk dominieren neben den Wissenschaften, man trinkt Wein statt Bier, Geldverkehr ist abgeschafft; wächst die Bevölkerung der Insel zu stark, werden in möglichst unbesiedelten überseeischen Gebieten utopische Kolonien gegründet, und Sklaven sind nur für die Zeit ihrer Strafe verurteilte Verbrecher. Es herrscht religiöse Toleranz und eine Art republikanischer Wohlfahrts- Harmoniediktatur. In den Dialogen der Rahmenhandlung kritisiert Thomas More zudem die in England praktizierte Todesstrafe.

So nimmt, lange nachdem Platons antikes Atlantis im Meer versunken ist, mit Mores idealem Inselreich die neuzeitliche utopische Gedankenwelt ihren Anfang. Sie führt, drei Jahre nach Machiavellis noch feudalem Hauptwerk „Il Principe“ und im Jahr vor Luthers reformatorischen Thesen, zu mannigfachen Adaptionen und Nachfolge-Utopien, schönen wie schrecklichen: von Campanellas „Sonnenstaat“ (1623) über Francis Bacons „Nova Atlantis“ (1627) bis hin zu Marx/Engels’ „Kommunistischem Manifest“ und dann noch Lenin, Stalin, Mao; auch hin zu den Fiktionen eines H. G. Wells und George Orwell oder Ernst Blochs vom utopischen Geist getragenem „Prinzip Hoffnung“.

Der Begriff „ou-topia“, das altgriechische Nirgendsland, korrespondiert auch mit „eu-topia“, dem guten Land, und das hatte Thomas More durchaus bedacht. Denn im Englischen klingen die Anlaute U“ und „Eu“ identisch. Was versal gewendet, jetzt die EU ergibt: Europas bislang letzte Idealidee.

Idyllen heute sind eher geschlossen

Mit diesen Anspielungen ins wirklich Aktuelle spielt die Ausstellung in Löwen – kaum zwanzig Zugminuten von Brüssel gelegen – nur verhalten. Utopia sollte als gegenüber Fremden abgeschlossene Insel auch einen Garten Eden darstellen. An diese irdischen Paradiese erinnert der sprichwörtliche „hortus conclusus“, der verschlossene Garten, den man in Löwen prachtvoll dargestellt findet in farbigen Zeichnungen und den um 1520 entstandenen plastischen Altar-Installationen aus Mechelen, mitsamt himmlischer Jungfrau und dem sagenhaften Einhorn.

Geschlossene Idyllen – inzwischen kehren sie wieder als Gated Communities. Und die sich abschottende Insel EU-topia hat ihre Hauptstadt in Brüssel. Daran erinnert im Obergeschoss des Museums M immerhin eine kleine, von jungen Architekten intelligent entworfene Schau, die mit Videos, Fotos, Installationen Europas befestigte Ränder näherrückt.

Die erschreckenden Gegenentwürfe

Alles beginnt, zurück in der großen Ausstellung, nun mit dem im Halbdunkel auratisch beleuchteten, unschätzbar wertvollen Exemplar der „Utopia“-Erstausgabe von 1516, die auch ein neues, von More erfundenes Alphabet enthält. Die schreckenden Gegenentwürfe zur positiven Utopie, die Dystopien, repräsentieren hier die Horrorfantasien eines Hieronymus Bosch – während die kleinere, sonst mehr geistesgeschichtlich orientierte „Utopia & More“-Ausstellung der nahe gelegenen Universitätsbibliothek auch noch Filmausschnitte etwa aus Truffauts „Fahrenheit 452“ bietet: der Kino-Version des dystopischen Bücherverbot-Romans von Ray Bradbury. Und im Raum davor findet sich eine besondere Erinnerung an Thomas Mores Ende: Heinrich VIII. ließ seinen kritischen, allzu papsttreuen Lordkanzler 1535 im Tower köpfen. Nun enthält ein gläsernes Amulett unter einem der hier präsentierten More-Porträts ein bräunliches Knöchelchen. Es soll ein Stück Halswirbel des Hingerichteten sein. Das rührt und gruselt, auch heute noch.

„Auf der Suche nach Utopia“, M-Museum Löwen, bis 17. 1. 2017, tägl. 11-18 Uhr. Der umfangreiche Katalog (auch englisch) kostet 59,99 € (im Museum 54,99 €).

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