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Der Kameramann als Videospiel-Avatar: Clemens von Wedemeyers Video „Against the point of view“ von 2016.

© von Wedemeyer/NBK

Ausstellungen im Neuen Berliner Kunstverein: Geschichte aus neuen Perspektiven

Der Neue Berliner Kunstverein zeigt Videoarbeiten von Elizabeth Price und den neuen Werkzyklus von Clemens von Wedemeyer.

Fotos und Filme besitzen die trügerische Eigenschaft, authentisch zu wirken. Dabei fängt die Manipulation schon bei den Fernsehnachrichten an. Schnitte und Sprecherkommentare verwandeln Videoaufnahmen in Artefakte. Es wird gekürzt, verbogen, verzerrt, bis – mitunter jedenfalls – nur eine Spur des Realen bleibt. Oder es entsteht eine neue Wirklichkeit, vielleicht schon Kunst.

Im ersten Stock des Neuen Berliner Kunstvereins ist eine Videocollage der britischen Künstlerin Elizabeth Price zu sehen. 2012 brachte ihr das zwanzigminütige Werk „The Woolworths Choir of 1979“ den begehrten Turner-Preis ein. Was wie ein Lehrfilm über gotische Kirchenarchitektur mit dem Thema der Altarraum oder Chor beginnt, wechselt zu verwaschenen Aufnahmen einer Girlband der sechziger Jahre über. Das könnte eine Reminiszenz an Talulah Gosh sein, die Band, deren Mitgründerin Price vor ihrer Künstlerkarriere war. Von der Tonspur ist Fingerschnipsen und Klatschen zu hören. Ein Rhythmus, der die kühnen Erzählsprünge fast vergessen macht. Unvermittelt landet das Video bei einem historischen Kaufhausbrand in Manchester. Der Titel entpuppt sich als irreführend: „The Woolworth Fire of 1979“ müsste es heißen. Zehn Menschen kamen im Feuer um, dem verheerendsten Großbrand in der Stadt seit dem Zweiten Weltkrieg. Elizabeth Price sagt, sie sei fasziniert von der „Elastizität“ der Videotechnik. Die Energie ihres Werks entzündet sich eher an den strukturellen Möglichkeiten des Films denn an spezifischen Inhalten.

Keine leicht verdauliche Geschichte

Anders Clemens von Wedemeyer, der mit seinem neuen Werkzyklus „P.O.V.“ („Point of View“ bedeutet Standpunkt oder Perspektive) die Erdgeschoss-Räume des NBK bespielt. Spätestens seit seiner filmischen Spurensuche „Muster“, auf der dOCUMENTA 13 erstmals zu sehen, ist der Filmemacher und Videokünstler als Spezialist für historische Sujets bekannt. Die sieben Projektionen in den Räumen der Chausseestraße verdanken sich einem Dachbodenfund: Wedemeyers Großvater, ein Wehrmachtsoffizier, hinterließ über zwei Stunden 16mm-Film, belichtet zwischen 1938 und 1942. Wedemeyer nutzt diese Weltkriegsaufnahmen, um sie zu analysieren, zu kommentieren oder weiterzuverarbeiten. Doch er unterlässt es, das Material als Erzählhäppchen zu servieren. Anders als im Fernsehen zum Beispiel bei Guido Knopp, bleibt Geschichte hier unverdaulich. Man wird nicht fertig mit den Nazis.

Nur die Einstiegsarbeit „Ohne Titel (Alles)“ belässt es dabei, das Gesamtmaterial im Zeitraffer abzuspulen. Aufmärsche, intakte und zerstörte Städte, der Triumphbogen im eroberten Paris, Schwäne und Sonnenblumen, Kanonen und Kutschen. Ein Bilderwirbel. Alles fliegt vorbei. Und eigentlich sieht man – nichts, zumindest nichts Neues.

Wo liegen die Grenzen der subjektiven Kamera? Enthüllen oder feiern die Bilder die perverse NS-Ideologie und ihre Verbrechen? Abseits von persönlicher Verstrickung des Großvaters fokussiert Wedemeyer auf die Bildstrategien der Zeit und auf das, was man nicht sieht. Genauso heißt eines von Wedemeyers Werken, basierend auf einem Gespräch, das der Künstler mit dem NBK-Direktor Marius Babias und dem Kulturtheoretiker Klaus Theweleit während einer Materialsichtung führte. „Die Aufnahmen sind interessant, weil sie keine Propaganda sind“, betont Theweleit und verweist auf eine Sondererlaubnis, die der Offizier und Rittmeister von einem Generalmajor bekam. Deutsche Soldaten an Maschinengewehren. Wer solche Kriegsbilder unerlaubt filmte, sei üblicherweise hingerichtet worden, erklärt der Wissenschaftler.

Denkend in Geschichte hineingehen

In dem Film „Die Pferde des Rittmeisters“ mischt sich Wedemeyer als Kommentator ein, in bester Harun-Farocki-Tradition. So weist er darauf hin, dass der Hobbyfilmer einen Flüchtlingstreck an der Kamera gleichsam achtlos vorbei- ziehen lässt, während er dem Zug der Eroberer mit Empathie, in die Bildtiefe hinein, folgt.

Im Video „Im Angesicht“ konzentriert sich Wedemeyer auf den Blick des Offiziers auf Zivilisten und Kriegsgefangene. Mit der Arbeit „Against the point of view“ präsentiert er das Reenactment einer historischen Situation, in der sich sein Großvater befand - in Form eines Computerspiels: ein Dorf im Belagerungszustand, flüchtende Zivilisten, ein Fluss, eine Militärbrücke, der Kameramann als ein Avatar unter vielen. Über Kopfhörer ist Wedemeyers Skype-Gespräch mit dem Software-Entwickler der 3-D-Umgebung zu hören, sie diskutieren mögliche Handlungsoptionen. Die Täter stoppen, den Opfern helfen: ein naiver Impuls? Nein, denn Wedemeyer führt vor, wie man denkend in die Geschichte „hineingehen“ kann, um für die Gegenwart zu lernen.

bis 31. Juli, von Di bis So 12 - 18 Uhr, am Do 12- 20 Uhr, Neuer Berliner Kunstverein, Chausseestr. 128/129.

Jens Hinrichsen

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